Von Carina Heinreichsberger
„Dort da vorne ist sie!“, brüllte eine Männerstimme durch den strömenden Regen. Kurz darauf spritzte die matschige Erde im Takt dutzender Schritte.
Linneas Herz pochte bis zum Hals. Ihre Kehle brannte, als hätte sie Feuer verschluckt. Feuer, das ihr jeden Tropfen Flüssigkeit aus dem Körper jagte. Ihre Gliedmaßen zitterten. Mit schierer Willenskraft stemmte sich das Mädchen, das gerade erst ihr vierzehntes Lebensjahr zählte, wieder auf die Beine. Umklammerte ein leuchtendes, sphärisches Gefäß und drückte es fest an die Brust.
Dann sprang sie durch die Dornenbüsche, zwischen denen sie sich versteckt hatte, und eilte weiter.
Doch die Jagdhunde ließen sich nicht beirren und hetzten dem Kind nach. Überschlugen sich in ihrem Kläffen und Knurren. Die Gier nach Fleisch zwischen ihren Zähnen war als dunkle Aura um die Tiere herum deutlich wahrnehmbar.
„Hinterher oder sie entwischt uns!“
Die Hunde kamen näher. Doch Linnea durfte sich keines Falls erwischen lassen! Sie verbannte die anwachsende Angst, die ihre Bewegungen einfrieren wollte. Wenn sie sie jetzt gefangen nahmen, war alles aus. Sie musste entkommen!
Das Mädchen biss die Zähne zusammen. Rang mit ihrem Gewissen. Und beschloss alle Regeln zu ignorieren, die man ihr jahrelang eingeprügelt hatte. Verwende sie niemals! Hörst du? Nie! Die Stimme jener Person, die einer Mutter am nächsten kam, hallte in ihrem Kopf. Ihr Blick wanderte zu dem leuchtenden Gefäß, das an der Kette um ihren Hals im Rhythmus ihres Laufschrittes baumelte. Sie verlangsamte ihr Tempo nicht. Sprang über Wurzeln hinweg, wie eine Gazelle. Rutschte unter Ästen hindurch, als hätte sie ihr Leben lang in diesem Wald gelebt.
Wenn ich sie nicht jetzt verwende, tut es er! Ein Blick über die Schulter verriet ihr, dass er näher war, als ihr lieb war. Er. Der ihre Familie in die Enge und damit in den Tod getrieben hatte. Etwas, dass sie verstehen, niemals jedoch verzeihen können würde. Trotz ihrer Erziehung zu einem Wesen, dem negative Emotionen ein Fremdbegriff hätten sein sollen. Zum Wohle von… ihr Blick senkte sich wieder zur Sphäre herab.
Linnea schloss die Augen für den Bruchteil einer Sekunde. Hielt den Atem an. Verbannte alle Gefühle, alle Gedanken aus ihrem Geist. Dann öffnete sie die Augen und ihr Blick zerschnitt die Luft förmlich. In ihrem Kopf hallte nur ein einziges Wort: Hilf!
Sofort erstrahlte die Sphäre um Linneas Hals. Schwebte wie durch Geisterhand empor. Und schien sich zu öffnen. Gleißend Helles Licht ummantelte das junge Mädchen. Schirmte sie von den entsetzten Blicken ihrer Verfolger vollkommen ab.
„Nein!“, brüllte eine Männerstimme. „NEIN!!“
Die Hunde jaulten vor Schreck auf. Männer gerieten ins Stocken. Die Farbe wich aus ihren Gesichtern. Manche brachen zusammen, vergruben ihre Finger im Schlamm oder trommelten mit den Fäusten auf die Erde.
Dann verschwand das Licht und mit ihm auch Linnea.
Zurück blieben die Männer, die ihr Leben damit verbracht hatten, dieses Kind ausfindig zu machen. Nun war sie verschwunden. Von einer Sekunde auf die andere. Ohne dass sie etwas dagegen hätten tun können.
Aelric brodelte innerlich vor Zorn. „Ich hab‘ gesagt HINTERHER!“ Die Köpfe seiner Männer hoben sich ungläubig. In manchen Augen lag Verachtung. Sie waren seit Jahren nicht mehr zu Hause gewesen, nur um dieser einen Spur nachzugehen. Hatten ihre Familien zurückgelassen. Ihre Heimat. Nur um dieses Geschöpf ausfindig zu machen. Und es dann wieder zu verlieren.
„Hauptmann, es ist an der Zeit nach Hause zu gehen“, sprach Marik mit tiefer aber einfühlsamer Stimme. Gerade wollte er Aelric die Hand auf die Schulter legen, doch dieser drehte sich wutentbrannt zu seinem Gefolgsmann um. „ICH bestimme wann es nach Hause geht!“
Der junge schwarzhaarige Mann zog seine Hand wieder zurück, hielt aber seinem Blick stand. Die Luft verdickte sich urplötzlich. Die Spannung zwischen den beiden Männern war beinahe greifbar. In Aelrics Blick lag eine Warnung. Er war der Hauptmann! Man hatte ihm zu gehorchen!
Doch auch Mariks Augen spiegelten eine Warnung wieder. Denn wenn sich Aelric nicht auf der Stelle zusammenriss, würde er das Vertrauen seiner Männer verlieren. Ein für alle Mal.
Einer der am Boden kauernden Männern – Leander – schnalzte entnervt mit der Zunge. „Ihr könnt gerne weiterhin Schlamm mit Wurzeln essen. Mir reicht es. Ich geh zu meiner Frau!“ Damit erhob er sich und kehrte dem Hauptmann den Rücken zu.
„Das wird mit Verrat am Dorf bestraft werden! Wir müssen das Kind zurückholen! Und die Sphäre!“, brüllte der Hauptmann.
Leander blieb ein letztes Mal stehen. Er sprach ohne sich umzudrehen.
„Das werden wir ja sehen…“
Dann verschwand er im Dickicht.
Aelric vernahm unruhiges Gemurmel unter seinen Männern. Leander hatte eine Lawine an Bedenken losgetreten.
„Brauchen wir die Sphäre überhaupt?“, flüsterte der eine.
„Vielleicht ist sie bei ihr sicherer als bei uns…“, meinte ein anderer.
Ungläubig starrte Aelric seiner kleinen Suchtruppe hinterher. Einer nach dem anderen hatte sich erhoben und war Leander gefolgt. Wenige Augenblicke später war Aelric allein. Nur Marik war an seiner Seite geblieben. Marik. Ihm hatte er nicht erst erklären brauchen, was auf dem Spiel stand. Er war damals dabei gewesen. Wusste, was diese Sphäre tatsächlich war. Wusste, wozu sie im Stande war.
Es war nicht irgendein mysteriöses Relikt aus alten Zeiten, wie die meisten seiner Leute dachten. Auch war es kein Schmuckstück, dass so viel Wert war, dass es sein Dorf füttern konnte. Nein. Dieses Ding lebte. Und es war mächtig.
In den falschen Händen konnte es Krieg bedeuten. In noch falscheren Händen… Er wollte es sich gar nicht ausmalen.
Es war unabkömmlich dieses Mädchen namens Linnea zu fangen und ihr die Sphäre abzunehmen. Er hatte es sich geschworen. Am Sterbebett seines Vaters hatte er sich geschworen diese Brut der Hölle an sich zu nehmen und mit seinem Leben zu schützen. Damit sie niemandem mehr Schaden zufügen konnte! Nie wieder!
Marik rückte näher an Aelric heran. Umfasste seine vom Regen erkältete Hand. Eine sanfte Wärme löste die verkrampften Finger. Vertrieb die kalte Wut aus ihm und entfachte neue Kraft in ihm.
Aelric fand seine lodernde Entschlossenheit wieder. Er hatte die Welt noch nicht aufgegeben. Und solange er Marik an seiner Seite wusste, würde es auch niemals dazu kommen!
„Geht es jetzt weiter mit der Hexenjagd?“, fragte Marik mit aufforderndem Grinsen.
„Nein“, erwiderte der Hauptmann und drückte Mariks Hand. Dann grinste auch er.
„Wir gehen auf Götterjagd!“
~to be continued~
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