Von Daria Leßner

Langsam und präzise bewege ich den Bleistift über mein Papier. Etliche Linien beginnen einen aufgerissenen Mund zu formen. Ich kann den Schrei nahezu hören, als ich das brennende Eisen auf die Brust der elenden Frau forme. Der Schrei frisst sich nur so in mein Ohr. Meine Haut beginnt zu kribbeln und meine Haare stellen sich auf. Immer weiter bahnt er sich in mein Körper, erschüttert ihn. Er frisst sich durch meine Brust hindurch, über mein Becken, bis hin zu meinen Beinen und Füßen. Ich spüre, wie er durch meine Arme bebt, bis hin zu meinen Händen, die sich zu verkrampfen beginnen. In der Hoffnung, diesen Schrei und das Gefühl loszuwerden, bewege ich meine Finger um das Papier und lass sie sich wieder verkrampfen. Das Papier verbiegt sich unter meinen Handflächen und formt sich zu einem kleinen Ball. Mein ganzer Körper leidet unter dieser enormen Spannung und so greife ich nach dem Bleistift und meine Finger ballen sich zu einer Faust zusammen. Im einen Moment spüre ich den Verursachen dieser höllischen Schmerzen noch in meiner Hand und im Nächsten ertönt das leise Klirren seines Aufpralls. Ich reiße meine Augen auf, zurück in der Realität. Ohne das ohrenbetäubende, verstörende Kreischen einer Frau meiner Fantasie. Ich führe meine Hand zu der Schublade vor mir, öffne sie. Das dumpfe Schleifen der Schublade beruhigt mich. Immer wieder bewege ich meine Hand vor und zurück und höre ihr zu. Als ich sie da letzte Mal bewege, um sie zu schließen, bleibe ich noch kurz sitzen, spanne dann aber doch meinen Körper an, der immer noch schmerzt nach diesem Zusammenbruch. Gerade als ich meine Beine durchstrecke, meinen Oberkörper aufrichte, falle ich wieder zurück und führe meine Hände zitternd zu meinen Ohren. Denn ich höre es wieder, das Schreien. Diesmal hört es sich jedoch näher an, realer. Ich kann das Klicken in meinem Kopf förmlich hören, bevor ich mit dem nächsten Wimpernschlag aufrecht stehe, mich durch den Raum voller Kisten schlängle, meinen Kopf einziehe und die Tür aufreiße. Mein Körper setzt nun ganz alleine sicher einen Schritt vor den anderen. Damit ich nicht von der Treppe falle, führt er meine Hand zum Geländer. Dann greife ich mit meiner Hand nach der goldenen Klinke, nehme einen tiefen Atemzug und drücke mit dem Ausatmen auch meine Hand hinunter. Die Tür springt auf und das Schreien wird schlagartig lauter und ich kann sogar die Frau dieses Schreiens erahnen. Ein riesiges Himmelbett steht mitten im Raum, gefüllt mit vielen roséfarbenen Kissen, die zum Farbspektrum der Blütenwand passen, übersäht mit Spiegeln. Das hat auch seine Ursache, denn im Bett liegt eine  Frau, die sich nur so krümmt und schreit, doch trotzdem ein wunderschönes Gesicht hat, welches vom Schmerz erfüllt ist und wenn man sie nur ansieht, dann erkennt man, woran das liegt, denn unter ihrem langen weißen Nachthemd -bedeckt von ihre blonden Haare, die in Wellen über ihre Schultern fallen, durchnässt von Schweiß- ist der deutliche Abdruck eines Bauches zu sehen. In ihm, meine kleine Schwester. Ich kann nur geschlagene 30 Sekunde wie angewurzelt stehen bleiben, denn die volle Aufmerksamkeit dutzender junger Frauen und Männer in schwarz-weißen feinen, kurzen Kleidern und Anzügen gilt ihr. Sie fächeln ihr Luft zu, bieten ihr Pralinen und Wasser an, spielen ihr etwas auf der Bratsche. Ich warte also, bis ihr Schreien verblasst und sie mir Beachtung schenken. „Elise“, höre ich eine Stimme zitternd flüstern, die meiner sehr ähnelt. „Elise, mein Schatz. Komm zu mir.“, sagt meine Mutter erneut. Nun weichen alle von ihr und treten zurück. Ich gehe langsam zu ihr und bewege mich, wie eine Dame vom Hofe, wie meine Mutter es mir lehrte, lege Bedeutung in jeden einzelnen Schritt. Als ich an der Bettkante stehe, dreht sie ihren Kopf zu mir. Diese Frau sieht für ihre 35 Jahre, ihre 6 Kinder und dafür, dass sie gerade in den Wehen liegt unverschämt gut aus. „Elise, du musst mir helfen“, beginnt sie. „Mutter, du wirst nicht sterben, also nehme deine Worte nicht so wichtig, als wären sie deine Letzten“, schaltet sich meine sarkastische, ungebändigte, aber auch manchmal ungenierte Seite ein, die ich selten stoppen kann. „Elise, du weißt, dass diese Schwangerschaft nicht einfach und sehr gefährlich ist.“, beginnt sie unverändert, bricht jedoch ab um mehrmals tief schnaufend Luft zu holen bevor sie fortsetzt: „Du weißt wo Martha wohnt. Geh und hole sie.“, ist alles, was sie sagt.

Dann wendet sie sich wieder ab und lässt mich stehen. Mein Kopf verarbeitete gerade erst ihre Worte, als mein Körper den Weg zu der Hebamme einschlägt, die wir in den letzten Monaten nur so oft besucht hatten.

Als ich durch die große Tür nach draußen trete, höre ich tausende Geräusche um mich herum. Das beruhigende Plätschern des Brunnens, das aufkratzende Knarzen der rollenden Räder, das Schreien der heulenden Kinder, doch ich konzentriere mich auf das schnelle, regelmäßige Klappern der Pferdehufe auf dem harten Boden. Im Takt setze ich einen Fuß vor den anderen, wie das Pferd, welches in dem Geschirr vor der Kutsche gefangen halten wird, getriezt bis zur Erschöpfung von seinem Herren. Einmal die Straße herunter und dann links. Ich werde langsamer, denn das Klacken verblasst. Als ich die rote Tür rechts von mir sehe werde ich nochmal schneller. Bewege mich auf die geheime Praxis zu. Meine Hand balle ich zu einer Faust, schlage gegen die hölzerne Tür. Ungeduldig trete ich von einem Fuß auf den anderen. Mein eigenes Getrampel macht mich nervös und unruhig. Zwanzigmal habe ich jetzt schon mein Gewicht auf mein linkes Bein verlagert und noch immer ist kein Laut hinter der massiven Tür zuhören. Weitere fünfmal wippe ich nun noch hin und her, bis ich es nicht mehr aushalte und erneut gegen die eiserne Tür klopfe. Das laute Klopfen holt mich zurück in die wahrhafte Realität und ich lasse meinen Blick an den Mauern entlanggleiten. Mein Auge erfasst die zu gehämmerten Fenster und sofort steigt Panik in mir auf. Ob Martha was zugestoßen ist? Ich brauche sie doch, beim Leben meiner Mutter. Sofort! Also renne ich schnell auf die andere Straßenseite. Hebe meine geballte Faust und klopfe. Im Kopf Zähle ich „1,2,3…17,18″ Ich beschließe dort stehen zu bleiben, bis ich bei 25 bin und so zähle ich langsam weiter „24, 25″. Während meine Gedanken noch bei der Blauen Tür mit den wunderschönen Geranien sind, stehe ich schon wieder an einer neuen Tür, einfach und braun. Dieses Mal zähle ich nur bis 15, Keiner öffnet. An der gelben Tür zähle ich bis 5 und dann renne ich einfach nur noch ziellos und panisch von Tür zu Tür, klopfe dreimal, renne zur anderen Seite, klopfe wieder, doch keiner öffnet. Die ganze Straße scheint verlassen, nur Vögel fliegen umher. Diese zwitschern nicht nur, sondern sie fliegen wild um meinen Kopf herum, dann ein Stück in eine Gasse. Genau siebenmal tun sie das, bis ich meine müden Füße zum erneuten Wettrennen, gegen meine eigenen Kräfte herausfordere. Ich folge den Vögeln und schon nach 36 Schritten vernehme ich ein aufgebrachtes Grölen der Bürger. Um sie genauer verstehen zu können, folge ich ihren Lauten. Immer deutlich höre ich, was sie da rufen.

„Tötet die Gesandten des Teufels“ und „Nieder mit den Hexen“, höre ich sie aufgebracht kreischen. Ich werde immer schneller, denn ich habe eine Vermutung. Doch das, was ich sehe, als ich auf den Marktplatz laufe ist schlimmer, als alles was ich erwartet habe. Auf dem Podest -auf dem normalerweise Pioniere stehen, die eine wunderbare Zukunft vorhersagen- stehen nun drei junge Frauen. Ihre Arme zusammengebunden, ihre zerfetzte Kleidung ist tief braun von Schmutz und ihrem eigenen Blut. Ihre Gesichter verkrampfen sich noch mehr, als sie mit voller Wucht drecküberzogene Steine in ihr Gesicht geschmissen bekommen. Ich konzentriere mich auf ihre Gesichter. Ich erkenne eine kleine Nase, blonde Haare und grüne Augen. Die rosigen Lippen wunderschön geformt, doch so verzerrt zu einem erschütternden Schrei. Ich kenne diese weichen, wunderschönen Gesichtszüge. Es ist Martha und sofort steigt Panik in mir auf. Da vorne -neben dem Galgen- steht die Frau, die mein Geschwisterkind auf die Welt holen und meiner Mutter das Leben retten sollte. Vor meinem inneren Auge; Die Leiche meiner schwangeren Mutter, ihr Gesicht auch im Tot noch verkrampft vor Schmerz und die Leiche von Martha. Wunderbare Talente und Menschen, die dort verloren gehen. Neben ihnen; Weitere junge, starke Frauen und Lebensretter. Rundherum steht das Volk, die Augen leer, der Körper starr, die Gedanken gefangen. Tausende Bilder und Emotionen stauen sich in mir an, Bilder von zerfetzten Leichen, verwüstete Landschaften und dann das Bild einer einzigen Frau, die aufsteht und ihre Stimme erhebt sich aufopfert und für die Menschheit ihr Leben gibt. Dann richte ich meinen Oberkörper auf, gehe stolz einen Schritt vor den anderen, vorbei an den schreienden Menschen, bereit ein Zeichen zu setzen. Kurz vor dem Podest angekommen blicke ich in die schmerzerfüllten Augen der Frauen und die hasserfüllenden Blicke der Menschen und schwinge mich hoch. Ich erhebe mich königlich und spreche :“STOP. Diese Frauen sind keine Hexen, sondern Pioniere unserer Zeit.“ Hände packen mich grob an meinen Schultern und ich werde zurückgezogen, doch ich rede weiter: „ Ihr tötet Menschen, weil sie stärker und intelligenter sind als ihr. Schafft euch euer eigenes gehorsames Volk, ohne eigene..“ , beginne ich doch eine Hand auf meinen Mund lässt mich das Wort verschlucken. Ich schaue in die Augen der Menschen und nehme einen kleinen Funken Willen wahr, während mir ein Strick um den Hals gelegt wird. Abgelenkt von dieser Vorstellung der Revolution, spüre ich den Strick fast gar nicht, als er sich enger um meinen Hals schließt. Ich höre noch das laute Aufbrüllen Tausender Menschen, die gerade ihre eigene, richtige Entscheidung für die Zukunft getroffen haben. Mitten unter ihnen die Stimme meiner Mutter und dann vermute ich noch ein kleines, leises Schreien eines Babys, welches gerade das neue Licht der Welt erblickt.