Von Veronika Beckmann

Henning Prinz steht wie jeden Morgen mit seinem Smartphone im Eingangsbereich der Regionalbahn und hat sich in den Wirtschaftsteil der Zeitung vertieft. Nachrichten aus dem Bundesverkehrsministerium, eine Analyse zum Wert von Staatsanleihen, der Düsseldorfer Versicherer Arag hat private Cyber-Policen auf den Markt gebracht. Jahrelange Übung hat ihn darin perfekt werden lassen, während der Lektüre seine Umgebung auszublenden. Heute ist es jedoch sehr voll und laut und widerwillig widmet er sich kurz dem Inneren des Zuges.

Oje, Altweiber, die sogenannte fünfte Jahreszeit strebt wieder ihrem Höhepunkt entgegen. Obwohl er schon lange im Rheinland lebt, hat er sich nie so richtig mit diesem Brauchtum anfreunden können. Umgeben von Fahrgästen in bunten Kostümen, lauten Gesprächen und Liedern einer karnevalistischen Hitparade versucht er nicht, weiterzulesen. Er verstaut das Smartphone in seiner Jackentasche und schaut, in Gedanken schon bei seiner Arbeit, den Rest der Fahrt aus dem Fenster.

Am Düsseldorfer Hauptbahnhof steigen die meisten Menschen aus. Fröhliche Karnevalisten mischen sich mit normalen Berufstätigen und drängen auf den Bahnsteig. Plötzlich spürt Henning einen harten Stoß in seine Seite. Er wendet sich verärgert um. Also, bei aller Toleranz, jetzt ist seine Schmerzgrenze erreicht. Neben ihm ringt eine Frau noch um ihr Gleichgewicht, hebt dann jedoch den Kopf und sieht ihn um Verzeihung bittend an.
„Es tut mir leid. Da ist jemand hinter mir gestolpert. Jedenfalls war es keine Absicht.“
Henning sieht in ein Paar grüne Augen, die ihn in aus einem schmalen Gesicht ansehen. Ihre Haut ist hell, ein Hauch von Sommersprossen liegt auf ihrem Nasenrücken und den Wangen und eine rötliche Lockenmähne umrahmt ihr Gesicht. Für ihn scheint die Zeit stillzustehen.

In Wirklichkeit ist der Moment in Sekundenschnelle vorbei, die Frau läuft weiter und eilt ein Stück vor ihm die Treppe in die Bahnhofshalle hinunter. Henning sieht ihr tief beeindruckt hinterher. Sie trägt ein Hexenkostüm und schließt sich zwei weiteren Hexen an, die unten auf sie warten. Obwohl er noch nicht so recht weiß, was daraus werden soll, bemüht er sich, sie jetzt nicht mehr aus den Augen zu verlieren.

In der Bahnhofshalle verteilen sich die Menschen und gehen in lockeren Gruppen in Richtung Innenstadt. Hier kann er den Frauen mit etwas Abstand gut folgen. Die rothaarige Hexe trägt unter einer Steppjacke einen wadenlangen grünen Rock mit Zipfeln und hält in der Hand einen spitzen grünen Hut. Neben ihr geht, in einen langen Mantel gehüllt, eine große Frau mit schwarzen Haaren, die sie mit frisiertechnischen Tricks und Haarspray in eine zottelige Mähne verwandelt hat. Die dritte trägt ein Kopftuch, einen Flickenrock und klobige Schuhe. In der Hand hält sie einen langen Reisigbesen, der Henning besonders gut gefällt, da er immer etwas über die Köpfe der Menschen hinausragt und es ihm leicht macht „seinen“ Hexen zu folgen.

Aus der Halle geht es hinunter in die U-Bahn. Heute ist das Rathaus in der Altstadt das Ziel der Möhnen. Auf dem Bahnsteig ist es eng, obwohl gerade erst eine voll besetzte Bahn abgefahren ist. Henning stellt sich etwa drei Meter entfernt von den Hexen zwischen die Wartenden. Er nimmt seine Brieftasche aus seiner Jacke, zieht rasch einen kleinen Zettel daraus hervor und schreibt mit seinem Kugelschreiber etwas darauf. Gerade als die nächste Bahn einfährt, hat er die Brieftasche wieder verstaut und besteigt vergnügt den Zug.

Die Bahn ist gut gefüllt mit fröhlichen und gesprächigen Menschen und auch zwischen ihm und den Hexen stehen einige Fahrgäste. Als der Zug anfährt, stößt Henning den Mann neben sich an, zeigt ihm den gefalteten Zettel und deutet in die gewünschte Richtung.
„Bitte weitergeben!“, versucht er laut seine Gesten zu erklären.
Der Zettel wandert zum Nächsten, der ebenfalls fragend schaut, geht noch durch die Hände von zwei Frauen, die mittels Zeichensprache von Henning angeleitet werden, und landet schließlich in den Händen der richtigen Person.
Henning schaut sie erwartungsvoll an, als sie ihm zunächst einen langen prüfenden Blick zuwirft. Dann liest sie die Nachricht.
“Darf ich Sie mal zum Essen einladen?“
Sie schaut erstaunt wieder zu ihm, lächelt dann plötzlich und macht mit der Hand ein Daumen-hoch-Zeichen. Henning grinst und sein Herz macht einen Hüpfer.

Die Fahrt unter der Erde dauert nur etwa fünf Minuten. Am Heinrich-Heine-Platz befindet sich gewissermaßen das Eingangstor in die Düsseldorfer Altstadt. Henning muss beim Aussteigen aus der Bahn eine andere Türe benutzen als die Hexen. Ungeduldig wartet er, bis eine Frau mit weitem Reifrock und eine Mutter mit Kinderwagen, die den Ausgang blockieren, sich umständlich geeinigt haben, wer den Zug zuerst verlassen darf. Als Henning auf dem Bahnsteig ankommt, sind seine Hexen weit und breit nicht mehr zu sehen.
Mist, denkt er und folgt dem Strom der Jecken hinauf auf den Platz. Egal wohin er schaut, nicht einmal der Reisigbesen ragt irgendwo über den Köpfen der Menschen auf. Enttäuscht bleibt er stehen.

Kurz darauf spürt er den Druck einer Hand auf seinem Arm.
„Weiste was, Jung, trink mal einen. Du hast es echt nötig.“ Wird er von einer dicken Clownin eingeladen. Sie hält ihm freundlich ein Plastik-Pinnchen mit einer klaren Flüssigkeit entgegen. „Kannste ruhig nehmen, ist was Gutes“, sagt sie, als er skeptisch schaut, und zeigt ihm die Flasche.
Warum nicht, denkt er frustriert und nimmt dankend den kleinen Becher. Als der Alkohol in seiner Kehle brennt, lässt er sich gleich noch einen zweiten geben.

Eigentlich müsste er jetzt ins Büro, aber dort mit einer Fahne auftauchen ist bestimmt keine gute Idee. Und jetzt aufgeben? Das kommt nicht in Frage, auch wenn es aussichtlos erscheint, seine neue Bekannte wieder zu finden.
Er verlässt den Platz, um dem Trubel etwas zu entkommen und ruft seine Kollegin an.
„Hallo Marion, ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich heute später komme.“
„Ist in Ordnung. Aber, ähm Henning, wo bist du und was machst du?“ Bestimmt hört sie die Musik im Hintergrund, ihre Stimme klingt erstaunt.
„Ach“, antwortet Henning lachend, „das wird, glaube ich, eine Hexenverfolgung.“
„Wie bitte?“
Er sieht sie vor sich, wie sie die Augen aufreißt und die Augenbrauen hebt.
„Das erkläre ich dir später.“
Hexenverfolgung, wie ist er nur auf den Ausdruck gekommen? Ob die zwei Schnäpse schon Wirkung zeigen? Irgendwie fühlt er sich jedenfalls unternehmungslustig.

In der nächsten Stunde lässt er sich durch die Gassen treiben. Hunderte bunt kostümierte Menschen sind hier unterwegs. Er sieht viele verschiedene Kostüme, aber vor allem ein buntes Durcheinander fröhlicher Menschen. Die Sonne scheint und die Stimmung ist einfach großartig. Aus den umliegenden Kneipen klingt laute Musik und immer wieder bietet ihm jemand ein Schnäpschen an. Zwei oder drei davon nimmt er noch, bis ihn ein schwankender Betrunkener zur Besinnung bringt, es ist ja noch Vormittag. Erstaunt bemerkt er, dass er mit vielen Menschen ins Gespräch kommt. Meist schreien sie sich an, weil es überall zu laut ist. Aber er erzählt gerne von seiner Suche und viele wünschen ihm Glück und klopfen ihm auf die Schulter.
Allmählich muss er jedoch einsehen, dass er seine Hexe wohl nicht wiedersehen wird. Den Höhepunkt des Altweiberfestes, die Übernahme des Rathauses durch die Möhnen, möchte er noch miterleben und dann wird er nach Hause fahren. Die Idee, heute noch ins Büro zu gehen, hat er schon nach dem dritten Schnaps verworfen.

Auf dem Marktplatz stehen die Jecken bereits dicht an dicht. Der Bürgermeister und die Venetia stehen auf dem Balkon des Rathauses. Über eine Lautsprecheranlage werden ihre Reden auf den Platz übertragen.
Plötzlich sieht Henning völlig unerwartet in der Mitte des Platzes bei dem Reiterstandbild einen Reisigbesen über den Köpfen der Menschenmenge. Gebannt starrt er hinüber und überprüft seine Wahrnehmung. Aber es gibt keinen Zweifel, diesen Reisigbesen hat er heute Morgen schon am Bahnhof gesehen.

Während auf dem Balkon alles seinen Gang geht, beginnt Henning, sich durch die Menge zu drängen. Als er neben dem Besen schon die wild hochstehende Mähne der großen Hexe erkennen kann, trifft er auf eine Gruppe besonders standfester Möhnen, die nicht einen Zentimeter zur Seite gehen. Die Stimmung auf dem Platz nähert sich dem Höhepunkt, gleich ist es 11.11 Uhr und die Erstürmung des Rathauses steht kurz bevor.
Henning ist verzweifelt und überlegt, ob er mit grober Gewalt den Durchgang erzwingen soll, bevor die Menge in Bewegung gerät und er die Hexen erneut aus den Augen verliert.
Aber da ist es schon zu spät. Laut zählt die Menge die Sekunden herunter.
„Drei!“
„Zwei!“
„Eins!“ Der Jubel der Jecken schallt über den Platz.
Henning erlebt dagegen seinen absoluten Tiefpunkt. Mit leerem Blick schaut er über die nun wogende Menge. Der Besen ist wieder verschwunden.

Als eine Hand ihn am Oberarm fasst und ihn zur Seite dreht, lässt er es gleichgültig geschehen.
„Hallo?“
Henning wendet langsam den Blick. Dann schaut er in ein fröhliches Gesicht mit Sommersprossen. Auf ihren roten Locken sitzt nun der grüne Hut und bringt ihre wunderschönen Augen zum Strahlen. Seine Hexe steht vor ihm und lacht ihn vergnügt an.
Einen Moment braucht Henning, um seine Überraschung zu überwinden. Dann fasst er sie um die Taille und dreht sich, während die Umstehenden erschrocken zurückweichen, lachend und übermütig mit ihr im Kreis.