Von Ian Sperg

Das dunkle Holz wog in ihren Händen wie Blei. Murmelnd presste Sophie das Kreuz gegen ihre Brust und ihre Haare hingen ihr in nassen Strähnen in das runde Gesicht. Der Wind wehte eiskalt in durch die offenen Fenster in ihre Stube.

„Wo ist Lenia, Sophie?“ Der Mann in dem schwarzen Mantel trat einen Schritt auf sie zu und seine dunklen Augen glitzerten. Sophie hatte seinen Namen vergessen. Sie hob wortlos den Kopf und starrte ihn mit verquollenen Augen an. Für einen Moment begriff sie nicht, wer der Mann eigentlich war, was er hier wollte, was überhaupt all die fremden Leute hier wollten, die in ihrem Haus umherliefen, Schubladen und Schränke öffneten und alles durchwühlten.

Bis es ihr wieder einfiel. Sie hörte, spürte es in sich. Etwas hatte in ihr zu summen begonnen, ein ferner Schrei, der irgendwo in ihr tobte und langsam lauter wurde. Sophie blickte an dem Mann vorbei und sah durch das offene Fenster in das Dunkel.

„Wo ist sie?“, wiederholte der Mann mit gepresster Stimme und trat einen weiteren Schritt auf sie zu.

Sie öffnete stumm den Mund, unfähig, zu sprechen. Schließlich lösten sich ihre Worte wie ein Klumpen nasser Schnee von einem Abhang. „Ich weiß es nicht“, flüsterte sie. „Meine arme Kleine.“ Der Mann im Mantel nickte einem der anderen zu. „Sucht weiter. Sucht auf dem Boden und im Keller. Sucht, bis ihr etwas gefunden habt.“ Sein Blick fiel wieder auf Sophie. „Falls es überhaupt etwas zu finden gibt. Noch ist Zeit, zu gestehen, Sophie.“ Der ferne Schrei in ihr fand schließlich seinen Weg und Sophie durchbohrte den Mann mit wildem Blick. „Lenia war einfach weg“, schrie sie und hielt mit bebender Hand dem Mann das Kreuz entgegen. „Ich bin eine Dienerin des Herrn. Ihr wisst das doch. Ihr habt kein Recht, unser Haus zu durchzusuchen.“ Sie schluchzte. „Ich bin doch unschuldig.“

Plötzlich hob sich langsam ihr Blick und sie lächelte den Mann aus ihren blauen Augen triumphierend an. Die Trauer in ihrem Blick war verschwunden. „Wer hat Euch diesen ganzen Unsinn überhaupt erzählt? War es Carissus? Dieser Dreckskerl. Und Lenia? Ja? Sie waren es gemeinsam. Ich seh`es in Eurem Blick. Sie ist die Sünde. Diese kleine Schlampe…“ Der Mann im Mantel spuckte aus, dann schlug er ihr ohne Vorwarnung mit dem Handrücken ins Gesicht. „Genug jetzt.“

Sophie kreischte, dann ging sie wimmernd in die Knie und ließ das Kreuz fallen.

Der Mann sah sie lange und verächtlich an. „Bindet ihre Hände“, befahl er. Einer der Männer holte ein Tau und band Sophie die Hände hinter dem Rücken zusammen. Sophie erkannte undeutlich, wie sich der Mann in dem Mantel zu ihr niederkniete. „Mein Name ist Vegard, Sophie. Erinnert euch an mich. Und erklärt mir, warum die Stube von Lenia so aussieht, als sei dort seit Wochen niemand mehr gewesen. Warum euer Weiher voller Knochen ist. Erklärt mir, warum man euch jemand anklagen sollte, wenn Ihr unschuldig seid?“ Sophie schüttelte nur den Kopf. „Ich verstehe das nicht, ich verstehe das nicht….“

Vegard erhob sich. „Ich hab` langsam genug davon. Habt ihr inzwischen etwas gefunden?“ Ein kleiner untersetzter Mann mit Vollbart trat vor. „Beim Nachbarshof scheint ein Pferd und der kleinen Karren zu fehlen. Außerdem hat man dort den Hühnerstall aufgebrochen. Es fehlen drei Hühner und ein Schwein.“  Vegard wischte sich mit einem Tuch das Gesicht ab. „Das ist der Hof von Carissus, oder?“

Der Dicke nickte. „Ja, aber wir konnten ihn nicht befragen. Er ist verschwunden. Das halbe Haus ist leer. Ist wohl hastig aufgebrochen.“ Vegard hob die Augenbrauen. „Er ist verschwunden?“

Plötzlich flog die Tür auf, ein eiskalter Windstoß fegte in die kleine Stube und ließ das schwache Licht der Kerzen aufflackern. Ein Mann in langem grünen Mantel stolperte herein, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

„Thoran. Schließt die Tür“, brüllte Vegard. Der Angesprochene warf die Tür hinter sich zu, zog die Kapuze herunter und blickte Vegard an. Sein Gesicht war bleich wie Mehl. „Entschuldigt bitte, mein Herr“, flüsterte er. „Ich denke, wir haben etwas. Die Scheune.“

„Bewacht sie gut“, befahl Vegard und wandte sich an den Dicken. „Geltha, Ihr geht voran. Thomas kommt auch mit. Und nehmt Fackeln mit.“

Die drei Männer öffneten die Tür und liefen durch den prasselnden Regen über den Hof. Der Boden war mit dickem Schlick bedeckt und breite Rinnsale suchten sich den Weg von den Hügeln herab in den kleinen Weiher, der zwischen dem Haus und den Feldern lag. Die Scheune lag hinter dem Haus wie ein großes dunkles Tier auf einem Hügel. „Öffnen“, rief Vegard durch den Wind. Thomas nickte Geltha zu, dann zogen die beiden Männer das Tor auf. Vegard schlüpfte durch den schmalen Spalt in das Innere. Geltha und Thomas folgten ihm und schlossen von Innen das Tor. „Licht“ sagte Vegard und Thomas reichte ihm die Fackel.  

Er lauschte in die Dunkelheit hinein. Die alten Balken der Scheune bogen sich über ihnen unter dem Wind und der Regen prasselte auf das Dach. „Was habt ihr gefunden?“, fragte er und seine Stimme klang seltsam gedämpft. Geltha deutete nach vorne und ging an Vegard vorbei. „Dort entlang“, sagte er und ging voraus. „Ein Heuballen lag auf ihr, deshalb haben wir sie nicht sofort entdeckt.“

Vegard hielt die Fackel vor sich. Vor ihm gähnte ein Loch im Boden. Eine Falltür.  „Ich gehe voraus“, sagte er und nahm die Fackel. Er ließ sich langsam in das Loch im Boden gleiten und tastete mit seinen Beinen die Wände ab, bis er die Stufen einer schmalen Treppe gefunden hatte. Es mochten kaum mehr als zehn Stufen sein bis er schließlich den Boden erreichte und doch war es hier unten deutlich kälter als in der Scheune. Ein beißender Geruch von Kot und Urin erfüllte die Luft. Vegard zog ein Tuch aus seiner Tasche und presste es sich vor das Gesicht. Vor ihm führte ein schmaler Weg geradeaus, gerade hoch genug, dass er sich nicht den Kopf an der Decke stieß. Nur einen Augenblick später stand Geltha neben ihm. „Was in Gottes Namen ist das für ein Gestank?“, fragte er und hielt sich den Ärmel seines Mantels vor die Nase. „Werden wir gleich sehen“, antwortete Vegard bloß. „Den Gang entlang.“ Sie gingen einige Schritte, dann blieben sie abrupt stehen. Geltha schien den Gestank vergessen zu haben, denn er ließ langsam den Arm sinken. Auch Vegard nahm das Tuch ab und starrte auf das, was sich vor ihnen auftat.  

Der Raum war kaum mehr als ein kaltes Kellerloch, möglicherweise ein altes Vorratslager. Doch Vorräte gab es hier schon lange nicht mehr. Stattdessen etwas Anderes. Im roten Licht der Fackel war die Kreidezeichnung am Boden kaum auszumachen. Die Linien unsauber und hastig gezeichnet worden. In der Mitte des Kreises lagen die Kadaver dreier Hühner inmitten ihres Blutes.  

Vegard umrundete den Kreis, darauf bedacht, das Innere nicht zu betreten und schritt zur hinteren Wand. Am Boden lag ein umgeworfener Schemel, daneben eine verdreckte Schüssel mit Holzbesteck sowie ein kleiner Eimer. Je näher er dem Eimer kam, desto stärker wurde der Gestank. Er sah sich um und entdeckte einige zusammengeknüllte Decken am Boden. Ohne in den Eimer zu sehen, nahm er eine der Decken und warf sie über den Eimer. Diesen Geruch kannte er. Nachdenklich ging er in die Hocke und nahm die Holzschüssel in die Hand. Jemand hatte hier gegessen. „Komm her“, befahl er. Geltha nickte und stolperte verunsichert auf Vegard zu, ohne den Blick von den toten Hühnern abzuwenden. Vegard deutete an die Wand und Geltha faltete die Hände ineinander. „Bei Gott. Sind das Ketten?“ Vegard nickte. „Fußfesseln. Jemand hat sie mit einem Schlüssel geöffnet.“ Er ließ die Ketten klirrend auf den Boden fallen und ging zur Wand. „Hier ist ein Loch in der Außenwand, deshalb ist es so windig.“ Er ging in die Knie, um nach draußen sehen zu können. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört. „Hier sind mehrere Fußspuren. Jemand hat die Bretter der Wand von außen herausgebrochen.“ Er stand langsam wieder auf. Jetzt gab es keinen Grund mehr zur Eile. Die Spuren führten von der Scheune fort in Richtung des Feldes. „Der Regen hat die Spuren verwischt“, sagte er und drehte sich langsam um. „Ich denke, nicht, dass wir noch mehr Beweise brauchen.“

„Das ist ein Hexenkreis, nicht wahr?“, fragte Geltha mit ängstlicher Stimme. „Ist sie….ist Lenia hier umgebracht worden?“ Vegard nickte langsam, ohne zu sagen, was er dachte.  „Ja. Ja, so sieht es aus. Geh zurück zu den anderen und bringt die Sophie zum Tannenberg.“ Als Geltha verschwunden war, ging Vegard abermals zum Loch in der Rückwand des Raumes, ging in die Hocke und zwängte sich nach draußen.

Er atmete die kühle Nachtluft ein. Heute Nacht würde auf dem Tannenberg eine Hexe brennen. Die Zeichen waren schließlich eindeutig. Etwas anderes als Hexerei würde niemand vermuten. Ein Hexenkreis am Boden, Töpfe mit etwas Blut, ein paar tote Hühner, hastig in den Raum geworfen. Jeder würde kaum etwas anderes vermuten. Er erinnerte sich an Lenia. Sie war klug und hübsch gewesen, vielleicht etwas zu zart für ihr Alter. Jeder im Dorf hatte sie geliebt. Das Mädchen war stets blass und nur selten im Dorf zu sehen gewesen, immer freundlich und still. Vegard erinnerte sich ebenfalls an Carissus. Niemand hatte es gewagt, etwas zu sagen, aber jeder wusste von der gemeinsamen Zeit zwischen Sophie und dem verschwundenen Bauern und Lenia sah ihm so ähnlich,  dass eine Verbindung kaum zu leugnen gewesen war. Außerdem hatte Carissus sich stets um das Mädchen gesorgt, hatte ihr Nahrung und Kleidung geschenkt, wann immer er konnte, seit ihrer Geburt.

Vegard starrte in die Dunkelheit. Bevor die Inquisition eintraf und Fragen stellen konnte, würde die gesamte Scheune nur noch ein verkohlter Haufen sein, das Loch tief unter ihr begraben. Sein Blick fiel auf die schwarzen Hügel der Felder und ihm war es, als würde er undeutlich die Schemen eines kleinen Karrens erkennen, der sich langsam in Richtung des Waldes bewegte. Und daneben die Umrisse zweier Menschen. Ein Mann und ein Mädchen. Vegard lächelte. Heute würde eine Hexe brennen.