Von Florian Ehrhardt

Montag

 

Montage sind scheiße. Jeder weiß das. Und es gibt nur eine Sache, die noch schlimmer ist als Montage: Ein 17-jähriges Mädchen in der Pubertät zu sein. Besonders schlecht wird es dann aber, wenn man ein pubertierendes 17-jähriges Mädchen an einem Montag ist. Zu allem Übel trifft auch das auf mich zu. Auch wenn meine Mama meint, dass man mit 17 kein Mädchen mehr ist, sondern schon eine junge Frau. Also zumindest hat sie das gemeint, als sie noch mit mir gesprochen hat. Und da habe ich also auch schon mein drittes Problem: Am Samstagabend hat es zwischen uns so sehr gekracht, dass sie jetzt nicht mehr mit mir redet.

„Erde an Laura, sind Sie noch da?“

Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. „Äh, klar, natürlich bin ich da!“ Ich versuche, selbstsicher zu klingen, doch der Blick von Herr Sperling verrät mir, dass mir das nicht gelingen wird.

„Gut, dann kannst du doch sicher wiederholen, was Lars der Klasse gerade über seine Ansichten zum Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten mitgeteilt hat, oder?“

Normalerweise merke ich mir jedes Wort von Lars. Eigentlich hänge ich ja förmlich an seinen Lippen und eigentlich beruht das ja auch auf Gegenseitigkeit, aber auch das dürfte ich mir am Samstag versaut haben. Ich druckse herum: „Ähm…also, ja…der Bürgerkrieg…“

Herr Sperling würgt mich ab. „Also nicht. Naja, es ist ja deine mündliche Note.“

Ein leises Gelächter kommt aus der letzten Reihe. Dort, wo ich eigentlich auch sitzen würde. Ich ordne es meiner besten Freundin Melanie zu. Wobei es „ehemalige beste Freundin“ wohl besser treffen würde. Da war ja auch was. Ich schlucke.

„Ich würde mir das Lachen verkneifen. Du stehst genau zwischen zwei Noten. Ich werde es dir ersparen, der Klasse zu verraten, zwischen welchen beiden.“

Die Schulglocke erlöst unsere Klasse von der kleinen Schimpftirade von Herrn Sperling. Er packt seine braune Aktentasche zusammen und ist auf dem Weg zu seinem Kaffee im Lehrerzimmer.

Ich sacke auf meinem Stuhl zusammen. Melanie rauscht wortlos an mir vorbei. Lars würdigt mich keines Blickes. Montage sind wirklich scheiße.

 

 

Dienstag

 

Papa sagt immer, dass der Dienstag der kleine Bruder vom Montag sei. Und mindestens genau so böse. Aber Papa ist nicht hier. Er ist auf Geschäftsreise. Und so sitzen nur Mama und ich am Frühstückstisch, starren wütend auf unsere Teller und funkeln uns böse an, wenn sich unsere Blicke kreuzen. Die Eskalation ist vorprogrammiert, die Frage ist nur, wer den ersten Schritt macht und das Schweigen bricht.

Nachdem ich drei weitere Minuten in meinem Müsli herumgestochert habe, ist es meine Mutter, die die Stille nicht mehr aushält: „Was hast du dir dabei gedacht?!“

Ich zucke die Achseln, versuche, teilnahmslos zu wirken, obwohl ihre Frage doch direkt zum Kern meiner Probleme vordringt.

„Du weißt doch, dass du mit Alkohol nicht umgehen kannst!“

Ich funkele ihr nur böse entgegen.

„Ich mache mir Sorgen! Papa macht sich Sorgen! Sogar Melanie und Lars machen sich Sorgen um dich! Obwohl du sie in deinem Suff auch beleidigt hast!“

Melle macht sich Sorgen? Ich dachte, Sie wäre durch mit mir. Diese Information lässt den Eisklotz um mein Herz ein wenig kleiner werden, aber Tauwetter ist noch nicht angesagt: „Melanie ist mir egal! Lars ist mir sowieso egal! David kann eh viel besser küssen!“

Meine Mutter seufzt. Sie versucht es immer noch mit Versöhnung. „Versuch‘ doch, uns zu verstehen! Wir lieben dich alle! Wir wollen nicht, dass dir irgendetwas Schlimmes passiert!“

„Ach ja? Ist David also etwas Schlimmes? Du musst nicht eifersüchtig sein, bloß weil du mit deinem Faltengesicht nie wieder eine Sahneschnitte mit so einem großen Schwanz bekommen wirst!“

Jetzt ist Mama an der Reihe, laut zu werden. „Spinnst du eigentlich? Ja, es ist etwas Schlimmes, sich auf einer Vorabiparty die Kante zu geben und dann mit einem wildfremden Typen rumzumachen, während dein fester Freund daneben steht! Und jetzt hör‘ endlich auf, dich hier so aufzuführen! Denkst du, du kannst hier machen was du willst?“

„Halt doch dein dummes Maul! Ich wünschte, du wärst tot!“ Mit diesen Worten schnappe ich meine Schultasche und renne aus dem Haus.

Als ich die Tür hinter mir zuschlagen will, kommt mir ein „Was ist nur aus dir geworden? Früher warst du nicht so!“ entgegen. Ich schlage die Tür nur noch fester zu.

 

 

Mittwoch

 

„Und du hast wirklich nichts von ihr gesehen oder gehört?“

„Nope.“

Papa stochert an seiner Pizza herum. „Laura, das ist eine ernste Sache! Deine Mutter ist seit gestern verschwunden! Du warst die letzte, die sie gesehen hat!“

„Ja und?“ Ich versuche, kalt zu bleiben, doch langsam aber sicher frage ich mich auch, wo um alles in der Welt meine Mutter stecken könnte. Aber noch immer zerbricht die kalte Mauer um mein Herz nicht. „Ich bin froh, wenn ich mal ein paar Tage meine Ruhe vor ihr habe!“

Papa fällt vor Schreck die Pizza aus der Hand. „Laura, so etwas darfst du nicht sagen! Deine Mutter könnte entführt worden sein! Oder noch schli- “

Die Türglocke unterbricht ihn.

Fast synchron stehen wir auf und laufen zur Tür. Ich bin etwas schneller und drücke die Klinke nach unten. Zwei Polizisten stehen vor unserer Haustür. Beide haben ihre Mütze abgesetzt.

Polizist eins – laut seinem Namensschild Manfred Müller – beginnt zu reden. „Herr Wildstein, wir haben ihre Frau gefunden. Sie wurde von einem polnischen LKW-Fahrer auf dem Rastplatz Seewiesen in ihrem Auto entdeckt. Wir gehen davon aus, dass sie vergiftet wurde“.

Die Eismauer zerbricht. Mir wird schummrig und ich gehe in die Knie. Ein scharfer Schmerz jagt durch meinen Kopf.

Polizist Nummer 2 – Herrmann Maier – fährt fort: „Frau Wildstein, da Sie ihre Mutter als letzte gesehen haben, sind Sie unsere Hauptverdächtige. Wir müssen Sie leider mitnehmen.“

Die Welt dreht sich und wird schwarz.

 

 

Donnerstag

 

„Zwar hat Bad Burgstein seinen letzten Hexenprozess im Jahre 1588 gehabt, aber ich denke, wir sollten hier und heute ein Exempel statuieren. Die Beweislast ist zu eindeutig. Ich danke, euer Ehren.“ Pfarrer Eisenhammer beendet sein Plädoyer und begibt sich zurück auf seinen Platz.

Gemurmel geht durch den Saal im Gemeindehaus.

Der Richter, den ich bisher immer nur als meinen freundlichen Nachbar „Onkel Alfred“ und noch nie in seinem richterlichen Gewand gesehen habe, erhebt sich. „Liebe Gemeinde, noch vor zwei Tagen hätte ich das, was wir heute hier tun, nicht für möglich gehalten. Die Inquisition erschien mir mittelalterlich und rückständig, aber offensichtlich habe ich mich getäuscht. Diese Frau“ – er deutet mit dem Finger auf mich – „ist definitiv das, was unsere Vorfahren als Hexe identifiziert hätten.“

Zustimmendes Gemurmel erhebt sich im Saal. Ich will schreien, doch der Knebel im meinem Mund unterdrückt meine Laute.

„Wir sind uns alle einig, dass wir letzte Nacht alle denselben Traum hatten, in dem die Hexe Laura Wildstein ihrer Mutter Ohrengift eingeträufelt hat. Das kann kein Zufall sein. Ich bin der Ansicht, dass eine Befragung der Hexe nicht nur unnötig, sondern – aufgrund ihrer Kräfte – sogar gefährlich wäre. Dennoch brauchen wir einen weiteren Beweis.“  Er wendet sich an die Ministranten, die als Gerichtsdiener fungieren. „Zieht sie aus und sucht nach dem Teufelsmal!“

Ohne meinen Körper wirklich zu spüren, bekomme ich mit, wie mir die Kleider vom Leib gerissen werden, bis ich nur noch in Unterwäsche dastehe. Ich lasse die Prozedur kampflos über mich ergehen. Was würde ein Kampf auch nützen? Ich bin den Verrückten, die ich einst Freunde und Bekannte nannte, schutzlos ausgeliefert. Vielleicht bin ich auch selbst an der ganzen Sache Schuld. Mama hatte Recht, ich hätte mich nicht mit einem wildfremden Typen betrinken sollen, der sich übrigens immer noch nicht gemeldet hat. Und außerdem habe ich mir gewünscht, dass Mama stirbt. Wenn es nun doch eine höhere Macht gibt…?

Ich versuche, den Gedanken beiseite zu schieben, während die Menge aufschreit, als mein Bauch entblößt wird und man das Muttermal links unter meinem Bauchnabel sehen kann.

Der Richter meldet sich wieder zu Wort. „Damit sind alle Beweise erbracht. Sie ist eine Hexe!“ Die Menge johlt und klatscht, doch der Richter hält inne: „Niemand wird uns das glauben. Wenn morgen der Funken brennt, wird nur eine Strohhexe am Mast hängen.“ Sein linkes Auge zuckt und ich wage zu hoffen, dass der Anführer der Verrückten einen Schlaganfall bekommen hat, doch dann fällt mir auf, dass er seinen Anhängern zuzwinkert.

„Amen.“, kommt die Antwort von Eisenhammer.

„AMEN!“, bekräftigt die Menge.

 

 

Freitag

 

Als das Feuer meine Zehen berührt, ist es eine Erlösung. Langsam züngeln die Flammen empor. Ich sehe an mir herunter, wo die Flammen beginnen, meine Haut abzuschälen, vom kleinen Zeh bis zur Ferse tritt rotes Fleisch unter schwarz werdenden, sich kräuselnden Hautfetzen hervor. Aber der Schmerz kommt nicht im Kopf an. Es ist, als ob sich meine verbrennenden Füße längst vom Nervensystem getrennt hätten. Als die Flammen beginnen, auch an meinen gefesselten, tauben Fingern zu lecken, steigt statt höllischen Schmerzen nur ein angenehmes Prickeln in meinen Kopf empor. Und dann kommt die Entrückung. Ich fühle, wie der Geist versucht, sich jetzt endgültig von meinem sterbenden Körper zu lösen. Die Seele erhebt sich, bereit, den Körper gen Himmel zu verlassen…

„Lauraaaa!“

Mit hektischen Blicken suche ich Papa in der Menge. Aber ihm gehört die Stimme nicht. Sie gehört David, den ich seit Sonntagmorgen so sehr vermisse und dessen Gesicht jetzt vor meinem auftaucht. Dunkel und geheimnisvoll wie die Nacht, aber immer noch so schön, nur leuchten seine Augen jetzt nicht mehr in diesem wunderschönen Blau, sondern ein ekelhaftes Gelb hat es ersetzt. Ich bringe nur noch ein schwaches „Nein…“ über die Lippen, doch es ist zu spät.

Er streckt seine Hand, die mir jetzt fast wie eine Klaue vorkommt, aus und beginnt, mich nach unten zu ziehen. „Ich habe deinen Wunsch erfüllt! Zeit, deinen Teil der Abmachung zu erfüllen!“, zischt er.

Die Welt wird schwarz.