Nadja Kaspar

Ich war sieben Jahre alt, als das Licht endgültig ausging.

Schon seit meiner Geburt konnte ich nur eingeschränkt sehen, bekam Augentropfen, wurde ständig untersucht und zweimal operiert. Mein Sehvermögen besserte sich trotz allem nicht, sondern verschlechterte sich mit der Zeit. Der Arzt erklärte mir, durch zu viel Druck im Auge sei die Leitung zum Gehirn beschädigt worden; es handle sich sozusagen um ein kaputtes Kabel, wodurch die Lämpchen in meinem Kopf nicht mehr angeschaltet werden könnten. Ich nahm das in meiner kindlichen Offenheit so hin – meine Eltern hingegen, gerieten in eine Art Schock. Von einem Tag auf den anderen war ich ein anderes Wesen; ich wurde vorsichtig und überaus liebevoll behandelt, Aufgaben im Haushalt brauchte ich keine mehr zu übernehmen, und es wurden mir alle nur denkbaren Hilfen zur Verfügung gestellt. Es änderte sich noch einiges mehr in meinem Umfeld, was zu berichten hier den Rahmen sprengen würde. Einzig meine Zwillingsschwester verhielt sich erfreulicherweise völlig normal.

Ein paar Tage nach der ärztlichen Diagnose, band Mina sich einen Schal um die Augen und begann, allerlei in blindem Zustand auszuprobieren. Mehrmals hörte ich sie gegen eine Wand laufen und theatralisch aufjaulen. Ich nahm das Spiel auf, streckte meine Arme nach vorne und quietschte bei jeder Berührung mit der Wand oder sonst einem Gegenstand. Als nächstes versuchten wir uns gegenseitig mit hohen Pfeiftönen zu orten und den anderen möglichst schnell zu finden. Nachdem auch dieser Spaß ausgereizt war, kramte Mina irgendwo in einer unserer Schubladen. Dann kam sie zu mir und legte mir ein Stück Knete in die Hand.

„Los, zeig mal, was du so siehst, in deinem Kopf!“

Sie glaubte offensichtlich nicht an die Lämpchen, die keinen Strom mehr bekamen. Ich nahm die feste, kalte Masse und bewegte sie von einer Hand in die andere. Dann fing ich an, sie zu drücken und zwischen meinen Händen warm und weicher werden zu lassen, bis sie sich gut formen ließ. Ich weiß nicht mehr, was ich formte, aber ich erinnere mich, dass ich gar nicht mehr damit aufhören wollte.

In den folgenden Wochen und Monaten probierte ich verschiedene Materialien aus, von Salzteig über Fimo bis hin zu Ton, welches mir schließlich am besten gefiel. Mit Mutters Hilfe richtete ich eine Werkstatt in der Laube im Garten ein. Sie stellte einen Tisch und einen Stuhl hinein, verlegte ein langes Stromkabel aus dem Haus und erstand eine einfache Töpferscheibe aus Holz. An die Wand nagelte sie mehrere Regalbretter für fertige Arbeiten. Mein Vater installierte einen kleinen Ofen zum Brennen.

So saß ich bald jede freie Minute in meiner Werkstatt und lernte das Töpfern. Mit dem Fußpedal brachte ich die Scheibe zum Laufen, wog zunächst den rohen Klumpen in der Hand, um ihn dann auf der Scheibe durch meine Hände gleitend hochzuziehen und zu einem Gefäß zu formen. Das Gefühl an meinen Handflächen; die knotige, widerspenstige Masse, die mithilfe von Wasser, leichtem Druck und Bewegung immer glatter und gleichmäßiger wurde. Meine Finger, die mit sanftem Druck an einer bestimmten Stelle die Form verändern und Feinheiten herausarbeiten konnten, so lange, bis es sich `richtig` anfühlte.

Das wurde meine Welt, mein Palast, in dem ich mich vollkommen fühlte – über Jahre hinweg.

***

Mina war dreizehn, als ich sie bewusstlos in ihrem Zimmer fand.

Ich hatte zuvor an ihre Tür geklopft, mehrmals. Da keine Antwort gekommen war, ich sie aber vor etwa einer halben Stunde in ihr Zimmer hatte gehen hören, öffnete ich die Tür – und wäre beinahe über sie gestolpert.

„Mina!?“ rief ich erschrocken.

Ich kniete auf dem Boden nieder und tastete nach ihrem Körper. Erst da fiel mir auf, wie wenig von ihr übrig geblieben war –.

Ich hatte mitbekommen, dass Mutter sie hin und wieder ermahnte, doch bitte um Himmels Willen mehr zu essen. Aber viel gedacht hatte ich mir dabei nicht; ich war mit meinen eigenen Gedanken und Themen beschäftigt gewesen, wir besuchten unterschiedliche Schulen, und Mina war oft mit ihrer `Clique auf Achse`, wie sie sagte. Nun aber hockte ich dort neben ihr, fühlte ihren Körper, die Rippen unter ihrer Bluse, die viel zu spitzen Hüftknochen, die Arme, die ich mit den Fingern ganz umschließen konnte; beinahe schien sie unter meinen Händen zu verschwinden. Vor allem aber rührte sie sich nicht!!

In plötzlich aufsteigender Panik schrie ich nach Mutter und Vater.

***

Wortlos saß Mina auf einem Stuhl neben mir in der Laube. Ich sehnte mich danach, sie einfach in die Arme zu schließen, zu spüren, dass sie noch da war. Doch eine bisher unbekannte Scheu hinderte mich daran. Ich lauschte angestrengt auf irgendwelche Geräusche, die aus ihrer Richtung kamen – zumindest ihren leisen Atem konnte ich wahrnehmen.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, löste den Knoten meines Halstuchs, tastete mich zu ihr hin und band es um ihren Kopf. Sie ließ mich gewähren. Dann legte ich ihr ein Stück Ton in die Hände. Kurz berührte ich dabei ihre kalten Finger.

Minutenlang war nichts zu hören, als das leise Schmatzen von Wasser und Material. Dann reichte Mina mir ihr Werk. Mit klopfendem Herzen fuhr ich mit den Fingern die Konturen entlang. Die Empfindungen ließen schnell ein Bild in meinem Kopf entstehen: Es war ein Körper, ein Mädchenkörper. Ich fühlte die winzigen Brüste und die fein ausgearbeiteten Hände und Füße –.

In den darauf folgenden Wochen kam Mina fast täglich in die Werkstatt, um ihre Skulpturen zu formen. Immer waren es weibliche Körper oder Teile davon; Beine, Vaginen, Hintern, Brüste, Köpfe. Ich wartete jedes Mal gespannt auf ihr nächstes fertiges Stück, das sie mir zur Begutachtung in die Hände legte.

Anfänglich redeten wir nicht viel, saßen einfach still nebeneinander, beide in unsere Arbeiten vertieft. Irgendwann jedoch begann Mina zu erzählen; von Elfie mit den langen schlanken Beinen, die alle Jungs verzauberte, von den Zeitschriften und den Sendungen im Fernsehen, mit all den wunderschönen, dünnen Mädchen und Frauen, an deren Körper einfach alle Kleidungsstücke perfekt aussahen. Und dann sie selbst -. Eine fette Kuh nannte sie sich! Hässlich, voller Pickel, und vor allem immer wieder eines: Fett! Ihre Stimme zitterte, hakte, brach, fing sich wieder. Sie wollte erzählen. Alles. Nie wieder, so sagte sie, wolle sie irgendein Geheimnis vor mir haben. Und dann riss sie mir mit nur drei Worten den Boden unter den Füßen weg:

„Ich hasse mich.“

Dieser Satz, unaufgeregt und klanglos gesprochen, setzte sich wie ein dicker klebriger Klumpen Pech auf mein Herz. Stumm saß ich da. Mina sprach weiter, als wären die soeben ausgesprochenen Worte ein selbstverständlicher Teil einer gewöhnlichen Konversation. Ich konnte nicht mehr folgen. Ihre Worte zerflossen im Raum, noch bevor sie mein Gehör erreichten. Erst ihr heftiges Schluchzen drang wieder zu mir durch. Ich tastete nach ihrer Hand und schlang meine Arme fest um ihren hageren Körper. Und da bekam ich wieder Boden unter die Füße:

„Wie kann ein Mensch, den ich so sehr liebe, sich selbst so verachten?! Du bist von Bildern besessen, Mina! Oh, wie ich wünschte, du könntest diese Bilder aus deinem Kopf löschen! Sie haben nichts mit dir zu tun! NICHTS!“

Nun liefen auch mir die Tränen über die Wangen – verzweifelte Tränen. Und wie wir uns da beide weinend in den Armen hielten und die Nähe nachholten, die in den letzten Jahren zu kurz gekommen war, kam mir eine Idee. Mina hatte erzählt, dass sie schon ein wenig Erfahrung mit Jungs gemacht hatte, und ich dachte, dieses Thema würde die Stimmung vielleicht ein wenig auflockern. Als ich meine Gedanken laut aussprach, stieg tatsächlich ein glucksendes Lachen aus ihrer Kehle hoch, erst zaghaft, dann immer lauter und unbefangener, immer mehr ein altbekanntes Mina-Lachen!

 Ich wollte genau wissen, wie sich so Männerdinge anfühlten, und Mina begann, Penisse und Hodensäcke in den verschiedensten Ausführungen zu formen. Sie meinte, der weiche, handwarme Ton fühle sich erstaunlich ähnlich an, wie das Original – in schlaffem Zustand.

„Und wenn wir das gute Stück brennen und hart werden lassen ..“

Wieder prusteten wir los, und ich reichte ihr fröhlich die Packung Butterkekse, die ich neben ein paar anderen Leckereien auf der Fensterbank deponierte.

Abrupt hörte Mina auf zu lachen. Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Okay, du einen halben Keks und ich den Rest der Packung“, presste ich hervor.

***

Ich gebe es zu, an jenen hellen und scheinbar unbeschwerten Tagen in der Laube war ich überzeugt gewesen, ich könne sie retten, alles könne wie früher werden, wenn wir nur wieder zusammen lachten und sie sich neue Bilder in ihrem Kopf zurechtlegte. Doch ich hatte mich geirrt. Nur ein paar Wochen später brach sie wieder zusammen. Sie hatte über mehrere Tage höchstens ein Salatblatt und drei Tomaten gegessen und meinte, sie müsse jeden Tag joggen gehen, um in Form zu bleiben. Diesmal wurde sie vom Krankenwagen abgeholt, und im Spital sorgte man dafür, dass sie aß.

Die Nacht vor ihrer Aufnahme in eine psychiatrische Klinik, verbrachten wir gemeinsam in ihrem Bett. Ich lauschte auf die Züge ihres Atems, die tiefer und gleichmäßiger wurden. Und während ich über Ursachen, Zusammenhänge und das Schicksal im Allgemeinen grübelte, bohrte sich ein leises Schuldgefühl wie ein kleiner spitzer Dorn in mein Herz.

***

V2