Von Peter Burkhard

„Geht nur ihr Blindgänger, ich komme ganz gut allein zurecht.“

Cleas halblaute Worte verloren sich im Halbdunkel. Der Rest der Schauspieltruppe hatte die Hotelbar wenige Augenblicke zuvor verlassen, um sich in die Gemächer zurückzuziehen. Clea war es gewohnt, allein die Stellung zu halten. Sie ging dann, wenn sie den passenden Zeitpunkt für gekommen hielt und das konnte durchaus dauern. Die Diva lehnte sich weit über die Theke und winkte der Bardame. „Bring mir noch einen Rusty Nail!“

Kaum geordert, stellte ihr Romy den Cocktail wortlos hin. Die angeschlagene Darstellerin tat ihr leid. Gleichzeitig mit Drehbeginn zu ihrem vermutlich letzten Fernsehfilm hatte deren Trübsal begonnen und war seither stetig schlimmer geworden. Jeden Abend blieb sie länger sitzen als die restliche, einiges jüngere Filmcrew, um ihre Probleme und ihr Selbstmitleid in Alkohol zu ertränken.

„Es ist die einzige Möglichkeit, die Dreharbeiten den Demütigungen zum Trotz noch bis zum Ende durchzustehen“, hatte sie Romy anvertraut. Auslöser der Bedrücktheit waren abschätzige Bemerkungen Ernies gewesen. Ihr Ex und Regisseur in einem hatte sie mehrmals deutlich spüren lassen, dass sie als antikes Sammlerstück durchgehen würde, und sie wusste, dass er damit recht hatte.

„Irgendwann geht es uns allen so, Darling“, hatte er zu ihr gesagt, „wichtig ist jetzt nur, dass du dich für diesen Dreh noch zusammenreissen kannst, das ist alles, was ich von dir erwarte!“

 

„Madame, Ihnen ist da etwas zu Boden gefallen.“ Cléa schrak auf. Vor ihr stand ein Fremder im Massanzug, schwarzes, glattgekämmtes Haar, um die vierzig und streckte ihr einen Paschminaschal entgegen. Das Accessoire war ihr Markenzeichen, ohne das sie sich selten sehen liess.

„Sehr aufmerksam, vielen Dank junger Mann“. Die Schauspielerin benötigte den Moment eines Wimpernschlags, um die Situation einzuschätzen und meinte darauf lächelnd: „Setzen Sie sich zu mir und leisten Sie mir etwas Gesellschaft.“

Sie fuchtelte mit den Händen. „Romy, bring dem Gast einen …, also mein Herr, was soll es denn sein?“

„Gern einen Cuba Libre, wenn’s recht ist.“ Der Smartie glitt auf den Barhocker. „Sie erlauben?“

„Nur zu, ich bin Clea. Ich gehöre zu dieser lauten Gruppe, welche Ihnen vermutlich eben über den Weg gelaufen ist.“

„Frank. Sehr erfreut gnädige Frau.“

Der Geladene hatte alle Vorteile auf seiner Seite. Er war sicherlich fünfzehn Jahre jünger als sein Visavis, mit forschem Charme gesegnet, und vor allem nippte er an seinem ersten Cocktail, während sie bereits ihren siebten oder achten Rusty Nail hinunterstürzte.

Cleas sprichwörtliche Unnahbarkeit begann entsprechend rasch zu bröckeln und der Alkohol befeuerte ihre verwegenen Gedanken. Doch sie wusste es eben noch zu verhindern, dass sich ihre frivolen Wünsche als Worte den Weg ins Freie bahnten.

 

* * *

„Was zum Teufel ist bloss mit ihr los? Jetzt hat sie sich während Tagen von ihrer verträglichen Seite gezeigt, als hätte sie eine beglückende Droge genossen und nun dies.“ Ernie schmiss das Drehbuch auf einen Klappstuhl und blickte konsterniert zu Silvie.

„Lass sie einfach und mach dir keinen Kopf, du hast sie zweimal kritisiert, das ist Erklärung genug. Ich habe keine Ahnung, was ihr Aufwind verschafft hat, jedenfalls scheint die Wirkung des Euphorikums bereits wieder verloren zu gehen.“

„Wie du meinst, aber ich bin es wirklich leid.“ Ernie sog an seiner E-Zigarette und wandte sich verstört wieder dem Geschehen am Set zu.

Da lag alles über den Küchenboden verteilt, fast schon, als hätte King Kong zugeschlagen: ein Toaster mit einem schwarzen, halbwegs aus dem Gerät gerissenen Netzkabel, zwei getoastete Scheiben Weissbrot, ein zersplitterter Teller und mittendrin ein Toter auf dem Bauch. Mit der rechten Hand umklammerte er ein blutverschmiertes Küchenmesser. Von einer Blutlache etwas abseits der Leiche führten grosse dunkelrote Tropfen, aneinandergereiht wie Perlen auf einer Schnur, und immer schwächer werdende blutige Damenschuhabdrücke weg durchs Wohnzimmer in Richtung Terrasse.

Der Darsteller des Erdrosselten drehte den Kopf und wollte sich erheben.

„Einen Moment bitte, bleib liegen, ich bin noch nicht fertig!“ Der Standfotograf schob seine hundertdreissig Kilos zurück hinter das Stativ und äugte durch den Sucher der Kamera.

„Jetzt nochmals stillhalten, ich bin gleich so weit!“

Trotz der Unruhe am Set liess sich der Mann hinter der Linse nicht stören. Noch ein kurzer Blick auf die Resultate, er schien zufrieden: „Et voilà, es ist alles im Kasten, die Leiche kann wegtreten.“

Er winkte Ernie zu und hielt den Daumen hoch, worauf sich der Chef des Ensembles erhob, in die Hände klatschte und um Ruhe bat.

„Leute, das war’s für heute, lasst bitte schnellstmöglich die Putztruppe ran, damit sie den Saustall wegräumen kann. Morgen gleiche Zeit, selbe Besetzung und mit Clea natürlich, wenn sie sich bis dann beruhigt hat!“

 

Die gekränkte Hauptdarstellerin sass bereits mit nacktem Oberkörper und verschwitztem, strähnigem Haar im Wohnwagen vor dem Garderobenspiegel und kämpfte mit dem verschmierten Make-up um ihre geröteten Augen. Die mit Filmblut besudelte Bluse hing über ihrer Stuhllehne, während die blonde Echthaarperücke achtlos zwischen den weggekickten Stöckelschuhen am Boden gelandet war. Seit ihrer überstürzten Rückkehr vom Drehort in den engen Raum der Garderobe sprach sie unentwegt vor sich hin, mehrmals unterbrochen von Weinkrämpfen, welche ihren grazilen Körper schüttelten.

„Ich will nicht mehr! So was lass ich mir doch nicht gefallen. Was wagt es dieser arrogante Kerl, mich dauernd zu kritisieren, mich, die schon fünfunddreissig Jahre …“

Eine kleine, kaum wahrnehmbare Bewegung unterbrach ihren Redeschwall und zwei, drei schnelle Schritte hinter ihrem Rücken liessen sie in die Höhe schnellen.

„Hey, was soll …?“

Weiter kam sie nicht.

 

Ernie lehnte sich aus dem Wagenfenster seines schwarzen Kraftprotzes: „Silvie mach schon, das Dinner wartet und ich habe echt einen Bärenhunger!“

„Ich komm ja gleich. Ich will nur schnell nachschauen, ob sich Clea abgeregt hat und ob sie überhaupt noch im Wohnwagen ist.

„Klar ist sie noch da, ihr Tesla steht ja dort beim Parkausgang.“

Silvie hörte nicht mehr hin, lief zum Wohnwagen, welcher der Diva exklusiv zur Verfügung stand, klopfte kurz und trat ein.

Von Clea war nichts zu sehen.

„Oh nein!“, Silvie erstarrte für einen Moment, bevor ihr Blick verstört über ein Chaos achtlos hingeschmissener Kleider wanderte und oberhalb einer Unmenge von Schminkutensilien am Spiegel hängen blieb. Der Satz war mit einem dunkelroten Lippenstift in fahrigen Grossbuchstaben hingemalt: SUCHT MICH NICHT.

Silvie erkannte Cleas Schrift sofort. „Mein Gott, was hat sich denn hier abgespielt?“

Sie zückte ihr Handy, knipste die Szenerie mehrfach und lief so rasch sie konnte zurück zu den andern.

Das Verschwinden und die kurze Mitteilung waren die einzigen Themen bis spät in den Abend hinein. Die Crew war aufgewühlt und verunsichert, doch in einem waren sich alle einig: Clea war ein erwachsener Mensch und nichts deutete auf eine gewaltsame Entführung hin. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als den folgenden Morgen und seine Vorkommnisse abzuwarten.

Doch Clea blieb verschwunden, ihr Handy unerreichbar.

Nach dem missglückten Versuch, mit dem Team in gewohnter Manier zu arbeiten, brach Ernie die Dreharbeiten bereits nach zwei Stunden ab. Er schickte alle zurück ins Hotel, nicht ohne ihnen mehrmals einzubläuen, über den Vorfall Stillschweigen zu bewahren: „Keine Zeile nach draussen, Clea wird zurückkommen und wir warten auf sie.“

* * *

 

Die Sonne schluckte eben die letzte Quellwolke, als der ungeübte Ruderer die Barkette in den Schatten einer mächtigen Buche am Ufer des kleinen Sees steuerte. Dort angekommen zog er die Ruder ein, während sich seine Begleiterin auf der Sitzbank im Vorderteil des Kahnes verlustierte. Genüsslich steckte sie sich eine Kirsche nach der andern in den Mund und versuchte, ihn beim Ausspucken der Kerne zu treffen. Er blickte lange ein paar Enten nach, welche laut schnatternd aufflogen, aber mit seinen Gedanken schien er woanders zu sein.

Ein Kirschkern traf ihn am Kinn. „Woran denkst du?“

„Ich bin der Meinung, dass wir nun endlich den Plan umsetzen sollten. Es sind jetzt immerhin sechs Tage und die brauchen ein Lebenszeichen, sonst drehen sie durch!“

„Das ist mir völlig egal, das ganze Pack soll leiden und der verfluchte Kläffer soll in seinem Elend schmoren.“

Sie kraxelte zu ihrem Liebsten, setzte sich mit dem Rücken zu ihm auf den Bootsboden und liess ihren Kopf zwischen seinen Schenkeln ruhen.

„Ich sag dir nochmals genau, wie wir vorgehen werden. Pass auf!“

Nachdem er geduldig und ohne sie zu unterbrechen zugehört hatte, strich er ihr mit der Hand durchs Haar und meinte: „Ich bin einverstanden und wenn die unseren Forderungen nicht nachkommen, dann wird eben die Produktion mangels Hauptdarstellerin sterben. Es liegt in deren Hand!“

 

Zurück an Land half er ihr aus dem Boot. „Sollen wir’s versuchen?“

Ihre Miene verfinsterte sich. „Ja, ruf an! Ich werde den Dreh nur unter den genannten Bedingungen zu Ende führen.“

„Es bleibt dabei?“

„Ja natürlich. Ich will, dass du jederzeit am Set anwesend sein kannst und ebenso will ich, dass er sich vor allen andern bei mir entschuldigt.“

„Das wird er nie tun!“

„Das werden wir ja sehen!“

„Okay, gib mir dein Handy!“

 

Es dauerte, bis sich am anderen Ende jemand vernehmen liess: „Was gibt’s?“

„Spreche ich mit Ernie?“

„Ja.“

Frank stellte sich vor und wollte dem Ex ihre Forderungen erläutern, doch er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden.

„Was? Seid ihr verrückt? Was glaubt eigentlich dieses arrogante Weibsbild? Ich lasse mich von der doch nicht …“

Frank zuckte bloss schmunzelnd die Schultern und brach das Gespräch kurzerhand ab.

„Das ging aber schnell.“ Clea drohte vor Neugier zu platzen. „Was meinte er dazu?“

„Er hat dankend abgelehnt. Dir ist klar, was das heisst, mein Schatz? Dann halt Plan B!“

 

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