Von Hans-Günter Falter

„Es hätte nie passieren dürfen, kennst du dieses Gefühl?
Es brach wie eine gigantische Welle über mich herein und riss mich mit.
Erinnerst du dich an diese grauenhaften Bilder von der Tsunami-Flut in Indonesien vor einigen Jahren? Alles wurde weggespült, Menschen brutal getötet, Existenzen vernichtet. Keiner hatte eine Chance zu entkommen. Natürlich ist das nicht vergleichbar mit dem was mir passierte, ich kann es aber genauso wenig fassen.“

Die Trennung von seiner Frau lag erst wenige Monate zurück. Er fühlte sich nicht in der Lage zu einer neuen Beziehung, hätte sich nicht auf die Suche begeben.
Aber er ist ein Mann. Und Männer suchen sowieso keine Frauen aus. Das ist eine Illusion. Es ist immer umgekehrt: Frauen wählen Männer aus. Männer versuchen zu beeindrucken und zu imponieren, plustern sich auf, aber selbst, wenn sie sich mit Anderen um eine Frau schlagen ist nicht sicher, dass der Sieger von ihr erwählt wird. 

Wie auch immer: Er wurde von ihr ausgewählt. 

„Mein Name ist ihr in einem Schrebergarten-Forum im Internet aufgefallen, schräg nicht? Ich hatte ihr sporadisch einige Tipps gegeben, zur Aussaat von Pflücksalat und Radieschen, das war auch schon alles.“ 

Unverhofft bekam er eine private E-Mail von ihr, daraus entwickelte sich rasend schnell eine sehr besondere, intensive, vertrauensvolle und intime Beziehung. Es war ein sanfter Gleichklang der inneren Schwingungen spürbar, von der Nordsee bis zu den Alpen. Die Mails schwirrten wie aufgescheuchte Brieftauben hin und her.
Alles rein platonisch, immerhin trennten sie 802 km.

Ihre Ehe segelte schon länger auf den Abgrund zu, da kam er gerade recht, als „Beschleunigungsfaktor“, wie sie es, wenig schmeichelhaft, formulierte. Sie lebte ein intensives Doppelleben. Brachte ihre Kinder gewissenhaft in die Kita und in die Krabbelgruppe. Erledigte die Hausarbeit und ging in den Garten, sooft es ihr möglich war, weil sie sich ihm dort nahe fühlte. Sie stand dann verträumt vor dem Hochbeet und streichelte sanft über den sprossenden Pflücksalat. Zwischenzeitlich saß sie vor ihrem Rechner oder tippte Nachrichten an ihn in ihr Handy. 

,Zum Heulen und Lieben, gehe ich in den Keller, damit mein Mann es nicht mitbekommt‘, so blinkte es vor zwei Tagen auf seinem Bildschirm auf. Am nächsten Tag, kündigte sie aufgeregt und unvermittelt an ihrem Mann zu erzählen, dass sie sich in einen anderen verliebt hätte. 

„Mann, da musste ich doch reagieren, oder? Wir hatten uns noch nie gesehen, noch nie gesprochen. Wer weiß, ob die Chemie stimmt, ob ich mich mit ihrem Tiroler Akzent anfreunden kann, ob ich sie riechen kann? Es gibt so viele Unwägbarkeiten, die über die Distanz so harmlos und nebensächlich erscheinen, aber jede Sympathie rückstandslos vernichten könnten.
,Vielleicht sollten wir erst einmal telefonieren, für den Anfang‘, schlug ich vor, um uns etwas anzunähern.“

Sie fühlte sich von ihm verstanden, hatte unermessliches Vertrauen. Endlich hörte ihr jemand zu und schenkte ihr die Aufmerksamkeit, die sie verdiente.

In der nächsten Nachricht schrieb sie: ,Ich habe meinem Mann alles gesagt, er hat getobt. Bitte hilf mir!‘

„Du verstehst sicherlich, dass ich mich sofort ins Auto setzen musste und losgerast bin. Ich wollte doch in ihrer Nähe sein, sie beschützen, … keine Ahnung was ich mir alles vorgestellt hatte.“

Unterwegs schrieb er ihr, dass er auf dem Weg wäre und sie antwortete: ‚Ich bin so erleichtert, du bist ein Geschenk des Himmels. Dann können wir nachher zusammen das Hochbeet bepflanzen‘.

„Natürlich war ich erstaunt, dachte es gäbe Wichtigeres als ein Hochbeet zu bepflanzen. Neben allem anderen, war ich darauf gespannt, ob die Chemie zwischen uns stimmen würde. Erwähnte ich das schon?
Ich konnte doch nicht ahnen, was da auf mich zurollte. Kannst du dich ansatzweise in meine Situation hineindenken? Nein, das geht natürlich nicht. Entschuldige!“

Gegen Abend war er bei ihr. Das Navi funktionierte ausnahmsweise tadellos. Wahrscheinlich spürte es seine Anspannung und hatte die berechtigte Sorge, sonst unter Nichteinhaltung der üblichen Gepflogenheiten, im weiten Bogen aus dem Fenster zu fliegen.

An der Gartentür empfing sie ihn ohne viele Worte und führte ihn direkt zum Hochbeet, dass sie viel zu tief ausgegraben hatte.

„Ich fragte sie: ‚Warum legst du ein Hochbeet an, wenn du dann die Erde nicht bis oben auffüllst. Das ist aus gärtnerischer Sicht unlogisch‘.
Die Antwort blieb sie schuldig, führte mich stattdessen hierher, in die Küche. ‚Das da nehmen wir zum Auffüllen‘, sagte sie und deutete auf die wüst am Boden verstreuten Brötchen, Teller, Tassen, die Marmelade, Frühstückseier und auf dich.“

Dass sie ihren Mann nach der letzten Mail mit dem Kabel des Toasters erdrosselt hatte, erzählte sie so ganz nebenbei. Und auch, dass sie den jungen Pflücksalat sorgfältig in Sicherheit gebracht habe, bevor sie das Hochbeet ausgehöhlt hatte. 

„Jetzt sitze ich hier auf deinem Platz, während sie den Pflücksalat gießt, und du liegst so komisch verdreht am Boden. Viel Zeit haben wir nicht mehr, aber ich will dir doch sagen: Schade, dass wir uns unter so misslichen Umständen kennenlernen mussten. Du bist, … nein, warst ein guter Zuhörer“.

Beim Einpflanzen des Pflücksalats hatte er Tränen in den Augen. Sie hingegen lächelte selig, führte ihn anschließend ins Schlafzimmer, setzte ihm einen Tirolerhut auf und hängte ihm einen Gamsbart an eines seiner zwischenzeitlich entblößten Körperteile. Dann sagte sie: „Ugricht is!“ 

Ach ja. Die Chemie zwischen den beiden passte. Sehr gut sogar. Keine Ahnung, warum er sich unwohl fühlte, als sie anfing sich für ein Schreibforum zu interessieren.

 

Gewidmet meiner heimlichen, unheimlichen Muse Katharina

 

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