Von Karl Kieser

Angelika ist eine zart gebaute Frau. Sie ist sehr zurückhaltend und macht einen verschüchterten Eindruck. Vor allem neben ihrem Mann wirkt sie befangen. Zu Hause bestimmt sie zwar ihr gemeinsames Leben, aber schon oft hatte sie das Gefühl, er gestattet ihr diese Illusion, um sie nicht noch mehr zu verschrecken.
Sobald Hubert am Morgen aus dem Haus ist, atmet sie auf. In der klassischen Rollenverteilung hat sie nun ihr gemütliches Heim für sich allein. 

‚Was ist überhaupt los mit ihm? In letzter Zeit ist er seltsam unbeholfen und tapsig. Das war bis vor wenigen Wochen nicht so. Trotz seiner 55 Jahre hat er sich immer kraftvoll und geschmeidig bewegt. Seit Tagen klagt er nun über ständige Kopfschmerzen, weigert sich aber, zum Arzt zu gehen. Er muss selber wissen, was er tut. Wenn ich ihm was sage, schreit er mich nur an. Seit diesen Kopfschmerzen hat auch seine Ungeduld mir gegenüber erschreckend zugenommen.
Ich weiß ja selbst, dass ich etwas langsam bin. Ich brauche eben immer etwas länger. Das hat ihn auch früher schon auf die Palme gebracht. Aber er ist doch nie handgreiflich geworden.‘ 

Bis vor zwei Wochen.
Als ihm das Abendessen nicht schnell genug auf dem Tisch stand, hat er ihr eine harte Ohrfeige gegeben. Ihre Brille ist quer durch den Raum geflogen. Sie selbst wäre gestürzt, hätte der Küchenschrank sie nicht aufgefangen. 

‚Der Schlag ins Gesicht war schon schlimm genug, aber diese infernalische Wut in seinen Augen war einfach entsetzlich. Woher kommt das auf einmal? Ich glaube, er hätte mich auch mit Fäusten geschlagen, wenn ich auch nur den Mund aufgemacht hätte. Seitdem reden wir kaum noch miteinander.‘

 Inzwischen lebt Angelika in der ständigen Furcht, dass so ein Wutausbruch sich wiederholen könnte. Seit diesem Schlag ins Gesicht, versucht sie im Beisein ihres Mannes möglichst unauffällig zu sein. 

‚Wie soll das nur weitergehen? Hätten wir Kinder, dann wären sie inzwischen erwachsen und ich könnte sie um Hilfe bitten. Wir haben nicht einmal Freunde, bei denen ich mir Rat holen könnte. Ich wage schon nicht mehr, ihn anzusehen. Manchmal kann ich direkt fühlen, wie er mich hasserfüllt anstarrt. Woher kommt dieser Hass? Das darf doch so nicht weitergehen. Sollen wir den Rest unseres Lebens so weitermachen?‘

Scheidung? Das wäre der Ruin für sie beide. Ihr relativ gesichertes, ruhiges Leben würde sie aufgeben müssen. Mit 50, ohne Ausbildung und Beruf würde sie sich mit schlecht bezahlten Hilfsarbeiten durchschlagen müssen.
Die heimlichen Träume über einen entspannten Lebensabend, in denen ihr Mann auch bisher nicht vorkommt, müsste sie endgültig aufgeben. Ein mühsamer Existenzkampf auf einem ärmlichen Niveau wäre die unausweichliche Folge.

‚Habe ich ihn jemals geliebt? Frisch verheiratet habe ich es mir wohl eingeredet. Aber eigentlich war ich nur glücklich, mein liebloses Elternhaus hinter mir zu lassen. Inzwischen weiß ich, dass es bei ihm ähnlich war.‘

Liebevolle Zuwendung gibt es zwischen ihnen schon lange nicht mehr, keine Innigkeit, kaum Verbundenheit und Freundlichkeit. Das ist kein angenehmes Leben. Scheidung als Alternative findet sie jedoch noch beschämender. Also weitermachen und auf bessere Zeiten hoffen.

Über ihre Gefühle sprechen sie schon lange nicht mehr. Sie kann mit niemandem reden über die erschreckende Veränderung ihres Mannes. Die gehässigen Nachbarn haben sich auch schon beschwert über sein neuerdings aggressives Verhalten und Schimpfworte über den Gartenzaun gerufen.

Zwischen ihr und Hubert herrscht nun eine Art gereizter Waffenstillstand. Jederzeit kann es aber zu einem neuen Ausbruch unkontrollierter Wut kommen. Sie hat Angst davor und fürchtet um ihr Leben.

An diesem Sonntagmorgen liegt etwas in der Luft. Angelika hat sich beeilt, den Frühstückstisch zu decken. Sie sitzt schon an ihrem Platz. Aber da ist noch das Bügelbrett von ihrer Arbeit gestern, das sollte sie noch schnell abbauen, damit Hubert keinen Grund findet, auszurasten.
Angelika braucht immer etwas Zeit, um einen Gedanken in die Tat umzusetzen. Noch bevor sie so weit ist, stolpert Hubert in die Küche. Er hat beide Fäuste gegen die Schläfen gepresst und einen gequälten Ausdruck im Gesicht. Angelika will ihn schon fragen, ob er wieder Kopfschmerzen hat, da fällt sein Blick auf das Bügelbrett und eine schlagartige Wut verzerrt sein Gesicht. Er stößt die Fäuste nach vorn und will dem Bügelbrett einen wilden Tritt versetzten, obwohl er nur Pantoffeln an den Füßen hat. In seiner Unkoordiniertheit verfehlt er das Klappgestänge, verheddert sich dafür mit dem Fuß im Kabel des Bügeleisens und stürzt. Vielleicht wäre noch alles gut gegangen, wenn es bei diesem Missgeschick geblieben wäre, aber bei dem Sturz reißt er mit dem Kabel auch den Ständer um.
Das Bügeleisen trifft ihn ausgerechnet am Kopf. Die ohnehin schon wahnsinnigen Kopfschmerzen werden dadurch noch weiter verstärkt und bringen ihn endgültig um den Verstand.
Seine unbegreifliche Wut richtet sich sofort gegen Angelika. In dem Durcheinander von Klappgestänge, Bügelbrett und Anschlusskabel kommt er nicht mehr richtig auf die Beine, schafft es nur bis zur halb aufgerichteten Position und wirft sich dann mit einem wilden Schrei auf seine Frau.
Die ist wie erstarrt auf ihrem Stuhl sitzen geblieben. Eigentlich hätte sie aufspringen und sich außer Reichweite Huberts bringen sollen. Erst als der auf sie zufliegt, versucht sie es.
Angelika ist wie immer zu langsam. Sie hat sich gerade mal halb von ihrem Stuhl erhoben, als sie von dem massigen Körper Huberts getroffen wird. Ihr Stuhl und sie selbst werden dabei umgerissen. Dem Stuhl brechen zwei Beine weg, als Hubert mit der Brust auf der nun hochstehenden Kante der Sitzfläche landet. Für Angelika ist das ein Glück, denn so reicht er mit seinen Fäusten nur bis zu ihren Hüften. 

Mit einem tierischen Heulen krallen und zerren seine Hände an ihren Kleidern. Immer wieder dreschen seine Fäuste auch auf Angelika ein, während sie panisch versucht, von ihm wegzukriechen. Das sind keine gezielten Schläge. Völlig wahllos und planlos arbeiten seine Arme wie Dreschflegel während sich seine Beine noch mehr in dem Durcheinander von Klappgestänge und Elektrokabel verheddern.
Sekunden später erwischt er die Tischdecke und der gesamte Frühstücksaufbau regnet auf ihn herunter. Hubert scheint das nicht einmal zu bemerken. Gleichgültig gegenüber den Scherben der zerbrochenen Kaffeekanne, dem heißen Inhalt und dem klebrigen Matsch, der aus Honig und Marmelade besteht, macht er weiter. Er scheint wieder zu etwas mehr Verstand gekommen zu sein, denn sein Heulen ist zu einem grimmigen Knurren geworden. Angelika fühlt, dass seine Schläge auch mehr Wirkung haben. Sie versucht immer noch, von ihm wegzukommen, aber Wand und Heizkörper sind im Weg. Alle Versuche, ihn durch Treten auf Abstand zu halten, scheitern. Sie ist zu langsam, zu wenig explosiv, um dieser animalischen Wildheit etwas entgegenzusetzen.
Das wird nicht gut ausgehen. Hubert muss wahnsinnig geworden sein. Verzweifelt tastet sie nach einem massiven Gegenstand, mit dem sie sich verteidigen könnte.
Das Kabel des Toasters … Sie angelt sich das Teil heran. In Todesangst schleudert sie das Gerät Hubert an den Kopf. Treffer, wider Erwarten und voller Genugtuung. Huberts manische Aggression wird dadurch aber nur kurz gestoppt. Es war nicht genug Wirkung hinter diesem Treffer. Der Toaster wird von seinen rudernden Armen herumgewirbelt. Überraschend zerrt etwas an ihrer Hand: der Stecker des Toaster-Kabels. 

‚Noch einmal! Mit mehr Wucht!‘

Angelika zieht hektisch an dem Kabel. Dieses einzige massive Teil in ihrer Nähe muss wieder her. Oh nein, der Toaster hängt fest. Sie zieht, mit der Kraft der Verzweiflung. Eine andere Chance wird es nicht geben. 

Erst nach einer Weile bemerkt sie, dass das tierhafte Knurren verstummt ist. Auch Huberts Schläge werden kraftloser und hören schließlich ganz auf.

Hat er sich endlich beruhigt? Ist dieser wahnsinnige Gewaltausbruch vorbei? Sie bemerkt, dass sie sich immer noch mit den Füßen gegen die Sitzfläche des zerbrochenen Stuhles stemmt und mit aller Macht an dem Kabel zieht.
Die Erleichterung, noch einmal davongekommen zu sein, überschwemmt sie. Schluchzend wagt sie einen vorsichtigen Blick. Schläft er? Ist das die Reaktion auf diese ungeheuerliche Raserei? 

Erst als sie feststellen will, wo sich der Toaster verklemmt hat, wird ihr klar, was passiert ist.
Im ersten Augenblick ist sie entsetzt, will das Kabel um seinen Hals lockern, Hilfe holen.
Doch dann geht ein Zucken durch Huberts Arme. Die geballten Fäuste heben sich. Es ist noch Leben in ihm und Angelika begreift, es ist noch nicht vorbei. Auch wenn sie nicht versteht, was mit ihrem Mann passiert ist, weiß sie doch, dass sie ihm nicht mehr vertrauen kann.
Plötzlich drängen sich ihre Träume von einem ruhigen Leben in den Vordergrund.

‚Jetzt wäre ich so nahe daran. Nur ein paar Minuten entfernt von einem angstfreien Witwenleben. Nur noch etwas länger ziehen.‘

Und Angelika zieht. Halbherzig zunächst, wie versuchsweise. Dann entschlossen, mit aller Kraft. Noch lange hält sie durch, selbst nachdem sie sicher ist, dass kein Leben mehr in ihm sein kann.
Dann quält sie sich unter Schmerzen auf die Beine. Sie fühlt sich unendlich müde und zerschlagen. Alles unterhalb ihrer Taille wird ein einziger blauer Fleck sein. Für das Schlachtfeld am Boden hat sie keinen Blick. Ihr Kopf ist leer. Sie weiß nur, so kann das nicht bleiben. Andere sollen die Verantwortung für dieses Chaos  übernehmen.
Erschöpft zwingt sie sich zum Telefon, wählt den Notruf.

 

Die Autopsie ergibt ein gefährliches Gehirnaneurysma, welches die dramatische Wesensveränderung Huberts erklären könnte. In den letzten Minuten seines Lebens ist es geplatzt. Als Marcumar-Patient hatte er keine Chance.

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