Von Anni Spreemann

„Guten Morgen, schön, dass ihr da seid“, begrüßt uns Frau Koch überschwänglich. „Wie geht es euch?“, schaut sie fragend in die Runde und ich verschmelze mit dem Stuhl. Sei der Stuhl. Emotionslos. Still. Einsam.
Meine Schultern schmerzen, doch ich wage es nicht, mich zu bewegen. Nur unbewegt bleibe ich unsichtbar. Ich schiele zu den anderen. Alle starren nach vorne und spiegeln mein Innerstes. Bleich und müde vom fehlenden Sonnenlicht und mangelndem Schlaf. Trotzdem sitzen wir hier. Tauschen Freiheit mit Heimknast. Wir haben uns verändert. Älter. Reifer. Trauriger. Wir sind gewachsen. In die Höhe oder in die Breite.
„Ich teile euch jetzt die Tester aus“, erklärt Frau Koch und nimmt zwei weiße Latexhandschuhe aus der Box. Niemand sagt etwas. Es ist still. Irgendwie leblos. Alle sehen nach vorne, auf die Lehrerbühne und erinnern mich an Zombies, die auf ihren Einsatz warten. Frau Koch spricht übertrieben deutlich und langsam, als wären wir Kleinkinder und hätten keinen Schimmer, wie man sich ´nen Stab in die Nase bohrt. Ist doch kein Ding. Besser als ein Schlag ins Gesicht zu bekommen. Eine Minute später heulen und niesen alle. Dann folgt umrühren, tröpfeln und auf die Klassenzimmeruhr starren. Durch die geöffneten Fenster dringen Vogelrufe und Autorauschen.
Während wir auf unser negatives Testergebnis hoffen, sollen wir von zu Hause erzählen. Ich denke an mein Zimmer, welches nicht abschließbar ist, und an meinen grimmigen Bruder, der immer noch eingesperrt vor dem Laptop sitzt. Entweder zockt oder studiert er. Meist lässt er seine abgefuckte Laune an mir aus. Heute nicht. Heute bin ich weg.
„Und wie war es bei dir?“, fragt mich Frau Koch. Ich wippe mit dem Fuß.
„Wie bei den anderen“, sage ich und betrachte den blauen Linoleumboden. Aus dem Augenwinkel sehe ich Frau Koch nicken, schaue hoch und unsere Blicke treffen sich. Sie betrachtet mein Gesicht und ihr Blick huscht hinunter zu meinem eingegipsten Arm und wieder hinauf. Ich lasse meine Haare in mein Gesicht fallen. Hör auf zu glotzen.
„In einer Woche kann der ab“, sage ich und hebe den Arm. Signalisiere, dass alles super ist.
Die 15 Minuten sind um. Keiner ist positiv. Frau Koch gibt ihren Schutzwall, den Lehrertisch, auf und kommt näher zu uns heran.
„Wer von euch erklärt nochmal unser Projekt, das ihr heute mitbringen solltet?“
Sie streicht sich ihren zu langen Pony aus der Stirn. Ihr dunkles Haar umrahmt ihr Gesicht und versteckt ihre Krähenfüße. Wenn ich die Augen zu Schlitzen verenge, sieht es aus, als trüge sie einen schwarzen Nikap.
Max spricht. „Wir sollten eine Collage erstellen und uns dazu einen kreativen Titel überlegen.“
Es folgen die Vorträge. Jeder muss nach vorne. Die Haut unter dem Gips juckt und lenkt mich ab. Sabrina ist dran.
„Mein Bild heißt: Warten auf das Paradies.“
Langweilige Blumen kleben auf grünem Hintergrund. Frau Koch findet es fantastisch und nickt wie ein Wackeldackel, den ich letztes Jahr auf der Autobahn in einem alten Trabbi gesehen habe. Ich überlege, ob Sabrina suizidgefährdet ist. Wer wartet denn bitte auf das Paradies? Ist ihr eigenes Leben so ausgekotzt?
Max ist dran und bringt Frau Koch kurzzeitig aus der Fassung. Ich erkenne eine alte Villa mit Eisenzaun, zwischen dessen Gitterstäbe ein blutiger Finger hängt. Das Blut nimmt ein Viertel des Bildes ein. Die Farbe leuchtet. Rot. Schmerzhaft vertraut. Max erklärt, dass er dazu die Ölfarbe seines Opas verwendet hat.
„Mein Bild heißt: Es gibt immer einen, der noch dümmer ist“, berichtet Max und gluckst. „Die Idee habe ich von einem Krimi. Darin hat der Mörder auf der Flucht seinen Finger verloren. Die Polizei identifizierte den Verbrecher anhand der DNA. Angeblich ist das eine wahre Begebenheit.“
Gespannt beobachte ich Frau Koch. Wird sie später die Eltern anrufen oder Max bitten, nach der Stunde dazubleiben? Wenn es hart auf hart kommt, holt sie den Sozialarbeiter. Letztes Jahr hat Marie einen Aufsatz über die Einsamkeit geschrieben und musste dann jede Woche einmal hin.
Sie betrachtet das Bild und nickt heftig. „Schön. Max. Ja. Klasse, dass du Zeit zum Lesen gefunden hast.“
Max tapst zu seinem Platz an mir vorbei, gefolgt von einer Wolke aus Schweiß. Frau Koch erspäht ihr nächstes Opfer. Mich.
„Was hast du uns mitgebracht?“
Widerwillig fische ich mein Werk aus dem Rucksack. Der Stuhl knarzt beim Aufstehen. Mein Arm, mein Rücken schmerzt. Vor zwei Wochen wäre ich nicht in der Lage gewesen, in die Schule zu kommen. Ich zeige meine Collage. Zusammengeklebt aus alten Zeitschriften. Eine Frau aus den Fünfzigern mit Kochschürze lächelt aus dem Bild heraus. Es ist ihr Lächeln, das mich fasziniert hatte. Aufgesetzt und falsch. Wie ein Spiel. Kaufe und du bist glücklich, sagt ihr Lächeln und ihre Augen verraten das Gegenteil. Man erkennt, dass sie lügt und es weiß. Sie spielt nur die Rolle einer Verkäuferin. Auch ich spiele, funktioniere. Trage eine Fassade. Die Frau steht in einer modernen Küche. Ihr Ehemann bückt sich gerade nach der heruntergefallenen Gabel. Ich sehe Frau Koch direkt in die Augen und hole Luft.
„Dieses Bild heißt: Wie eine Frau am Küchentisch mit dem Kabel vom Toaster ihren Mann erwürgt“, sage ich und beobachte ihre Reaktion. Für einen winzigen Moment reißt sie die Augen auf.
„Warum tut sie das?“
Kein „fantastisch“, dringt über ihre Lippen. Es ist still. Ich höre den Zeiger der Uhr.
Mir fallen viele Gründe ein. Manchmal reicht es, wenn man zu spät nach Hause kommt. Doch das muss sie nicht wissen. Ich habe mich für ein Klischee entschieden. „Weil ihr Mann fremdgeht. Man erkennt es am Lippenstift an seinem Kragen. Als er sich bückt, ergreift sie den Toaster und erschlägt ihn damit. Da er noch lebt, erwürgt sie ihn mit dem Toasterkabel.“
„Aber man kann doch nicht einfach jemanden erwürgen“, sagt Frau Koch fassungslos.
Ich lege den Kopf schief. Wird sie meine Eltern anrufen? „Wieso nicht?“
„Ich dachte immer, Frauen vergiften Männer“, mault Max dazwischen.
Es klingelt. Aus den Zombies werden Schüler, die zum Flur hinausstürmen. Wie Süchtige ziehen sie ihre Handys raus. 45 Minuten ohne ihren besten Freund sind eine lange Zeit.
„Mika, bleibst du noch kurz?“, fragt die Lehrerin, obwohl wir beide wissen, dass es eine Aufforderung ist. Niemand wartet auf mich.
Fuck. Sie hat es gemerkt. Warum habe ich keine Blumenwiese geklebt?
„Möchtest du mir etwas sagen?“, fragt sie, nachdem alle gegangen waren. Ihre Augen wandern zum Gips.
„Nein, Frau Koch.“
„Woher kommen die blauen Flecken in deinem Gesicht?“
Shit. Ich senke den Kopf und lasse den Vorhang nach vorne fallen.
„Du kannst mir vertrauen. Ich kann dir helfen.“
Für einen Moment gerate ich in Versuchung. Doch dann überwiegt die Scham.
„Das ist nice, aber ich muss los.“
„Wenn was ist, erreichst du mich über die Lernplattform. Ich schaue auch abends drauf.“
Ich laufe einen Schritt rückwärts und ein leichtes Nicken von der Lehrerin entlässt mich. Frau Koch ist schon in Ordnung. Wir verstehen uns.
Der Schulhof ist bereits leer. Ich denke an zu Hause und eine schwarze Decke drückt mich nieder. Mein Handy vibriert. Eine Nachricht von meinem Bruder. 

„Trödel nicht!“
Ich bleibe stehen. Meine Füße wollen nicht mehr, mein Magen verkrampft sich. Die Decke schnürt sich noch fester um mich. Ich spüre die Schläge, den Sturz und den scharfen Schmerz in meinem Arm. Die Buchstaben verschwimmen.
„Du bist ja noch hier“, stellt Frau Koch fest und legt ihre Hand auf meine Schulter. Ich zucke zusammen.
„Habe ich dir wehgetan?“
Sie sieht mein Gesicht. Ich kann ihr Lächeln sehen und ein warmer Schauer rieselt über die Decke. Frau Koch wartet auf meine Reaktion. Soll ich mich ihr anvertrauen? Eigentlich ist sie nett. Ich kann kaum laufen und werde zu spät nach Hause kommen. Mein Bruder wird ausrasten, weil ich getrödelt habe. Ich stecke mein Handy weg und wische mir die Hände an der Hose ab. Frau Koch schaut mich aufmunternd an. 

„Wenn du es zulässt, kann ich dir helfen.“

Wenn ich es zulasse? Ich entscheide mich ihr zu vertrauen.

„Ich brauche Ihre Hilfe. Ich will nicht mehr nach Hause. Mein Bruder schlägt mich und meinen Eltern ist es egal.“
Ihr Lächeln verschwindet, sie nickt wissend und wird ernst. „Danke, Mika, dass du mir die Wahrheit gesagt hast. Ich werde dir helfen.“


Ich weiß nicht, wie sie das schaffen will. Aber ich glaube ihr.

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