Von Bernd Kleber

„Lieber Herrgott, erbarme Dich meiner, mit 59 Jahren kann das doch noch nicht alles gewesen sein… Er stinkt, wenn er aus der Kneipe kommt, er rülpst, er knattert sich hemmungslos in der Küche einen ab, während ich das Essen bereite, er nervt! Hätte ich gewusst, dass seine sechs Jahre mehr eines Tages so ins Gewicht fallen würden, dieses Ekel, … ähm… ich hätte ihn nie genommen. Sein Teil, also eher das, wo er die Bommeln drin trägt, hängt so tief, ich fürchte manchmal, er wird noch drauftreten… mir wird kotzelend in seiner Nähe…!“

Sie kippt nach vorn, löst die gefalteten Hände und legt sie vor sich aufs Bett. Die Knie schmerzen…

Dann erhebt sie sich stöhnend, schlüpft in ihre Hasen-Schlappen und watschelt hinab in die Küche. Sie sieht sich um. Alles sauber. Na gut, sie greift den Lappen und wischt erneut über die geblümte Wachstuchdecke.

Dann setzt sie sich. Zuppelt am Haarnetz, unter dem die Lockenwickler kneifen und fasst nach der Zeitung. Genüsslich leckt sie Daumen und Zeigefinger und blättert in der großformatigen Gazette.

„Nur Mord und Totschlag! Krisen! Betrug! Armut! Hunger! Und unfähige Regierungen, wohin man sieht!“

Sie stützt ihren Kopf in die Hand und erblickt das Telefon. „Gute Idee!“, näselt sie, greift nach dem Hörer und wählt eine Nummer.

„Hei Rita, hier ist Christine, wie geht es, was machen die Primeln? Sind sie gut angewachsen? …“ Sie lacht auf und lehnt sich zurück…

***

„Lieber Herrgott, was soll ich nur tun, gestern kam er wieder erst um drei Uhr nach Hause. So ein Vollidiot! Dann schrammte er mit seinen wabbeligen Oberarmen links und rechts im Flur am Rauputz entlang. Merkt der noch was? Widerlich. Seine stinkenden Klamotten hat er in den Gang geworfen. Er ließ sich auf mich fallen und sabberte etwas von ‚Bussikussi‘ und ‚… wir könnten doch mal wieder … ‘. Spinnt der? Er hat gar nichts, womit er mal wieder könnte… Ich schob ihn von mir runter, er klatschte auf den Fußboden und wimmerte. Da musste ich meine Bettsachen nehmen und ins Gästezimmer ziehen… ich will das nicht mehr!“

Als hätte die Inspizientin des Welttheaters dem Bühnentechniker des Irdischen ein Zeichen gegeben, strahlt die Sonne durch die Spalten der Jalousien. Christine sieht im Spiegel der Frisierkommode ihre Haare deutlich heller und gleißend…

***

„Lieber Herrgott, womit habe ich das verdient? Warum strafst Du mich so? Oder wofür? Sag es mir! Ich war gestern beim Friseur, die Dagmar hat mich so gelobt, was ich für volle Haare habe und hat mir den neuesten Schrei frisiert. Ich sehe aus wie eine Frau von höchstens, allerhöchstens 40, meinte sie und??? Lieber Herrgott, was nun, was habe ich davon? Einen alten schlaffen fetten Sack, der das Geld versäuft…. Bitte gib mir ein Zeichen!“

Da läutet von der Straße her eine Glocke. Christine erhebt sich aus ihrer knienden Position. Fährt da unten ein LKW vorbei, mit einem Werbebanner und einem Lautsprecher auf der Führerkabine! Christine öffnet das Fenster. „Ausverkauf bei ‚Juhnke und Heuler‘ alles muss raus, 50 Prozent auf alles. Und mit dem Codewort ‚Raus‘ erhalten sie nochmals 16 Prozent.“

Christine bekommt glasige Augen, als sie das Kleid anprobiert. Der nette Verkäufer empfiehlt ihr auch noch wunderbare Pumps dazu, als Bonus, sagt er. Sie kauft alles. Man muss sich auch mal was gönnen.

***

„Lieber Herrgott … was muss ich tun, was soll ich machen? Ich kann nicht mehr … Was soll ich jammern, muss ich dieses Los ertragen bis zum jüngsten Gericht? Was habe ich nur verbrochen? Gestern kam ich in meinem komplett neuen Outfit vom Einkaufen und treffe meine Nachbarin. Meint die doch, ‚Sie sehen ja zwanzig Jahre jünger aus, haben Sie was machen lassen? Verraten sie mir alles!‘, worüber ich sehr lachen musste. Denn in Wahrheit sehe ich natürlich nur ungefähr sechzehn Jahre frischer aus… zwanzig, die Alte übertreibt natürlich.

Jedenfalls kam ich wie immer in eine leere Wohnung. Dafür dann aber wieder nachts Theater. Er stürzte, fiel in der Küche und kam nicht mehr hoch. Dann spuckte das Schwein vor sich hin. Heute Morgen habe ich ihm den Scheuerlappen direkt ins Gesicht geworfen, als er noch schnarchte und bin gemütlich zum Bäcker gegangen. Die Blicke … ich hatte mich natürlich fesch gemacht.“

Sie erhebt sich von den Knien und wankt zum Fenster, auf ein Zeichen wartend. Da lauscht sie dem Sprecher im Radio: „… und was wollen Sie den Gästen anbieten? – Nur die feinsten Backwaren, fair gehandelte Kaffees und Tees … alles in BIO-Qualität. – Sie hören es meine Radiolauscher, Café Fairtrade in der Schusterstraße eröffnet heute seine Pforten für ein bewusst genießendes Publikum. Mit dem Codewort ‚Radiomorgen‘ erhalten Sie eine Kugel Eis kostenfrei. Viel Vergnügen!“

Das Eis ist sehr lecker, denkt Christine und sieht sich in dem neuen Café um. Da sitzen glückliche Menschen und laben sich kichernd an Demeter-Erzeugnissen. Viele Speisen aus der Region werden versprochen. Christine schlürft an einem bolivianischen Hochlandkaffee, nicht aus der Region. Für das gute Gewissen legt die Serviererin, die wie eine Studentin aussieht, die eben aus dem Bett gekrochen ist, eine Karte auf den Tisch, auf der das Projekt im südamerikanischen Regenwald dokumentiert ist. Die Tasse Kaffee kostet allerdings so viel wie flüssiges Gold. Christine gluckst und hebt ihre Augenbrauen beim Lesen.

Es tritt ein Mann an ihren Tisch. Hochgewachsen. Dunkle Augen, fast schwarz, dunkle Haare. Einen tadellosen Anzug, rotbraun mit rotem Einstecktuch. Christine bekommt Herzklopfen, was ihr unangenehm ist. Sie tadelt sich insgeheim töricht.

„Entschuldigen Sie, ist hier noch frei?“ Christine sieht sich in der Räumlichkeit um, als möchte sie sicher gehen, dass jeder mitbekommen hat, dass dieser Mann sie ansprach, nicht etwa umgekehrt. Und dass nachher nicht jemand verkennen würde, dass sie zuerst an diesem Tisch gesessen hatte, das Eis war ja schließlich fast alle.

„Ja, bitte!“

Der Mann setzt sich fast geräuschlos. Ein betörender Duft geht von ihm aus: Moschus, Ambra, Patschuli. Christine spürt ein eigenartiges Magenkribbeln.

Der Mann, er stellt sich als Beliar vor, spricht mit einer so beruhigenden tiefen Stimme, dass Christine all die Dinge tun möchte, die ihre Mutter immer verboten hatte. Der Raum um diesen Mann verschwimmt, ja das gesamte Café-Interior wabert zu einem Brei, einem „Süßen Brei“, der den Fremden umgibt. Er blickt ihr mit seinen dunklen Augen tief in die ihren, sie lässt nicht von ihm ab. Als er sie dann an der Hand berührt und sich beim Aufstehen für das Gespräch bedankt, wird es Christine eiskalt. Fast hätte sie „Nein!“ gerufen, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. Das Blut schmeckt metallisch, welches sie von ihrer Lippe ableckt, in die sie gebissen hat.

***

„Lieber Herrgott, was soll ich nur tun. Der Alte ist der alte… aber es gibt etwas Neues. Mir geht ein Herr nicht aus dem Kopf, den ich im Café kennen gelernt habe. Ich habe sogar von ihm geträumt. Es war ein ganz besonderer Traum. Ich fühlte den Mann.“

Sie schlägt drei Kreuze!

„Er war ganz dich vor mein Gesicht gekommen, seine Augen haben sich in mein Hirn gebrannt, ich will nie wieder von ihm lassen. Ich schäme mich, aber ist es Sünde, wenn ich heute wieder in das Café gehe? Bitte gib mir ein Zeichen.“

Das klatschende Geräusch an der Haustür, erzeugt von der auf den Fußboden fallenden Post, schreckt sie hoch.

Außer einigen Rechnungen fiel ihr eine Werbesendung auf. Café Fairtrade Bons für ein Heißgetränk, wenn man das Tages-Gedeck bestellt! Christine lächelt und weiß, wo sie den Tag verbringen wird.

Frisch geschminkt, lebensbejahend sozusagen, sitzt sie an ihrem Platz und blickt sich im Café sehnsüchtig um. Dann erscheint er. Zeigt er sogar ein Lächeln?

Aber!

Er geht auf einen anderen Tisch zu. Frau Wiesenmeier sitzt dort allein. Christine springt auf, ihr Stuhl kippt nach hinten, laut scheppert er auf dem Fliesenboden.

„Herr Beliar, hier ist noch ein Platz frei für Sie!“

Jetzt grinst der Vornehme und zieht eine Braue hoch, steuert auf Christine zu. Als er sitzt, ist für sie die Welt ein Zuckerwattebausch. Sie lässt keinen Blick von seinen Lippen, saugt in tiefen Zügen seinen Duft. Ihre Hand rutscht Millimeter für Millimeter näher an seine, in der Hoffnung, durch eine kleine winzige Berührung endlich elektrisiert zu werden! Sie hört ihm lächelnd zu.

Bevor er diesmal aufsteht, neigt er seinen Mund dicht an Christines Ohr und wispert. Erst kann Christine die fremdartigen Worte gar nicht verstehen. Doch dann entstehen Bilder in ihrem Kopf: Bunte Wiesen, flatternde Kleider, wehende Hutbänder. Und ein Versprechen säuselt in lauem Sommerwind, verklärt Hirn und Herz. Sie müsse sich befreien. Frei … frei … frei …

Dann steht Herr Beliar auf, verbeugt sich. Mit einem breiten Lächeln, sie nicht aus den Augen lassend, küsst er ihre Hand. Dann entschwindet er. Der grasgrüne Anzug und das rote Einstecktuch funken wie ein Signalfeuer zum Abschied.

***

„Lieber Herrgott, ich konnte doch das „Freisein“ nicht anders deuten! Was blieb mir denn übrig, er hat gebrüllt, „Niemals Scheidung!“, hat er geschrien. Aber ich musste. Ich kann doch Herrn Beliar nicht enttäuschen. Zum Glück gabst du mir wieder ein Zeichen! Das Kabel vom Toaster schlang sich ja förmlich von allein um meine Hand! Und so schnell wie alles funktionierte, wie von selbst, da hatte ich es ihm um den Hals gewunden und sein letzter Atemzug war vergangen. Nun liegt er dort unten … Wie werd´ ich den nur los?“

Es klingelt. Christine zuckt zusammen, schlappt dann hinunter. Vorsorglich schließt sie die Küche, in der ihr Gatte auf dem Boden liegt, das Kabel um den Hals. Seine Zunge, blau und dick, wie boshaft herausgestreckt.

Sie öffnet die Wohnungstür und ein Strahlen streichelt ihr Gesicht. „Herr Beliar … was …“

Weiter kommt sie nicht. Der elegante Herr springt herein, verdreht ihren Kopf bis es kracht. Aus dem Körper Christines zwängt sich flatternd ihre Seele.  Beliar schnappt sich die und verdampft senkrecht im Boden. Und ein Lachen donnert durch den Flur…

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