Von Ursula Riedinger

Hilda schleppte sich die letzten Stufen zu ihrer Wohnung hoch, fummelte nach dem Schlüssel und zog dann erleichtert die Türe hinter sich zu. Sie stellte ihre Einkaufstasche ab, goss sich in der kleinen Küche ein Glas Wasser ein, wusch sich die Hände und benetzte ihre müden Augen mit kaltem Wasser. Dann liess sie sich auf ihr bequemes altrosa Sofa plumpsen, das sie sich geleistet hatte, als ihr Mann gestorben war und sie sich eine kleinere Wohnung suchen musste.

Es war ein anstrengender Tag gewesen, die Hektik, die immer steigenden Anforderungen, und oft auch ein schlechtes Arbeitsklima, für das Hilda ihre Chefin verantwortlich machte, die die Mitarbeiterinnen gegeneinander ausspielte und auf Schritt und Tritt ihre Arbeit kontrollierte. Heute war gerade so ein unerträglicher Tag gewesen. Hilda wünschte sich oft, sie könnte schon in Rente gehen, aber mit 54 war sie dafür noch zu jung. Und sie könnte es sich ja auch nicht leisten. Hilde trank in kleinen Schlücken und atmete tief durch, wie Flora, ihre Yogalehrerin es immer vormachte. Der einzige Weg, Spannungen abzubauen, wie sie immer sagte. Nach und nach entspannte sich Hilda ein wenig. Ihre Gedanken gingen zum Abendessen, es musste etwas sein, das rasch zubereitet war. Dann dachte sie an den Literaturkurs von morgen, auf den sie sich schon freute, der Abwechslung in ihren Alltag brachte.

Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf das Foto von Lara, das auf dem Sideboard stand, und sie lächelte. Ihre 18-jährige Tochter strahlte sie auf dem Foto an. Ihr glückliches Lachen erfüllte sie jedes Mal mit einem Glücksgefühl und gleichzeitig mit einer grossen Wehmut. Lara hatte ihre dunklen Haare zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, ihr hübsches rundes Gesicht war sonnengebräunt, ihre ausdrucksvollen braunen Augen sahen sie direkt an. Sie trug eine hellblaue Bluse, schon ein wenig verwaschen, um den Hals ihre dünne Goldkette mit ihrem Lieblingsanhänger, einem Türkisstein. Lara träumte davon, mal zu den Puebloindianern nach New Mexico zu fahren. Sie lachte so strahlend wie das nur eine 18-Jährige konnte, die richtig glücklich war. Lara war verliebt gewesen damals, als sie ihr junges Leben an einem sonnigen Frühlingstag verlor. Zum ersten Mal richtig verliebt in ihrem Leben. Verliebt in ihren hübschen Luca. Ein süsses Paar waren die beiden gewesen. Was aus Luca geworden war, wusste Hilda nicht, sie hatte ihn nie mehr gesehen seit damals, obwohl sie sich um einen Kontakt bemüht hatte. Für ihn musste es ebenso unerträglich gewesen sein wie für sie. Luca, der am Steuer gesessen hatte, als der Unfall passierte. Immerhin war er nicht Schuld gewesen an Unfall, ein anderes Auto mit zwei jungen Männern hatte die Kollision verursacht. Alle hatten überlebt ausser Lara.

Lara wäre jetzt 30. Was wohl aus ihrer Tochter geworden wäre? Sie wollte Floristin werden oder Reitlehrerin oder Buchhändlerin. Sie wollte reisen und die Welt sehen. In jenem Sommer wollte sie mit Luca nach Florenz fahren, Hilda hatte ihre Zustimmung dazu gegeben. Vielleicht wäre sie Mutter geworden von einem kleinen Tobias oder einer kleinen Hanna, und Hilda Grossmutter.

Nachdem sie sich ein paar Kartoffeln gekocht und dazu etwas Käse gegessen hatte, legte sich Hilda hin, ohne den Fernseher einzuschalten. Sie fiel in einen tiefen Schlaf und erwachte am anderen Morgen erfrischt auf. So lange hatte sie schon lange nicht mehr geschlafen. Es lag nur ein halber Arbeitstag vor ihr. Und auf den Abend freute sie sich schon. Vor ein paar Wochen hatte sie sich endlich aufgerafft und sich in den Literaturkurs der Volkshochschule eingeschrieben, den sie schon länger im Auge gehabt hatte. Der Kurs machte grossen Spass, die Leiterin führte sie mit Begeisterung durch verschiedene Stilrichtungen. Sie lasen jeweils eine Kurzgeschichte und diskutierten dann im Kurs darüber. Das letzte Mal war ihr ein Mann aufgefallen, der besonders angeregt und wortgewandt gesprochen hatte, ein interessanter Mann, mit einem schönen Lachen. Hilda gefiel dieser Mann, der wohl etwas älter war als sie, aber sie wollte sich nicht zu sehr von Gefühlen ablenken lassen. Die meisten Begegnungen mit Männern, die sie in den letzten Jahren gehabt hatte, seit sie ein wenig über Laras Tod hinweggekommen war, waren enttäuschend verlaufen. Vielleicht abgesehen von Nils, aber wie das ausgegangen wäre, konnte man nicht wissen, denn Nils war eines Tages einfach nicht mehr aufgetaucht. Später hörte sie, er lebe jetzt in Spanien.

Als Hilda am Nachmittag nach Hause kam, war sie guter Laune. Sie fühlte sich weniger müde als sonst, die Arbeit war ihr gut von der Hand gegangen, die Chefin war nicht da gewesen. Was wollte man mehr. Sie stellte sich unter die Dusche, zog sich etwas Bequemes an, ihre weiche, blaue Baumwollbluse und ihre neue schwarze Hose. Sie bürstete ihre halblangen grauen Haare. Dann legte sie sogar ein wenig Lippenstift auf, was sie selten tat.

Im Wohnzimmer trank sie einen schwarzen süssen Espresso und holte sich die Kurzgeschichte an den Tisch, um sie nochmals konzentriert zu lesen. Als sie aufsah, spürte sie plötzlich ein merkwürdiges Flimmern im Raum, ein seltsames opakes Licht erfüllte das Zimmer und es war ungewöhnlich warm geworden, obwohl es draussen eher kühl und der Himmel bedeckt war. Hilda öffnete das Fenster, aber die flimmernde Wärme blieb im Raum hängen.

Dann fiel ihr Blick auf Laras Fotorahmen. Lara verströmte das gleiche Strahlen wie immer, aber das Flimmern war rund um ihr Bild besonders dicht. Sie stand auf und schaute genauer hin. Vor dem Bild auf dem Sideboard lag etwas, das heute morgen noch nicht dort gelegen hatte. Laras Kette mit dem Türkis. Hilda berührte die Kette mit zittrigen Fingern. Der Türkisanhänger war ganz heiss! Aber das konnte doch gar nicht sein. Sie hatte Lara die Kette bewusst mit ins Grab gelegt, um sie ihr auf ihrer letzten Reise mit auf den Weg zu geben. Jetzt lag sie hier. Es war wirklich die gleiche feine Goldkette, der gleiche Türkisstein, sie erkannte ihn an seinem unregelmässigem Farbmuster und der kleinen Einbuchtung auf einer Seite. Hilda nahm die Kette in die Hand. Der Stein kühlte sich jetzt langsam ab. Auch das merkwürdige Licht verblasste, das Flimmern löste sich auf, bis es schliesslich ganz verschwunden war.

Hilda schreckte auf und schaute auf die Uhr. Schon halb sechs. Sie musste los, konnte sich jetzt keine weiteren Gedanken machen. Kurz entschlossen legte sie sich die Kette um den Hals. Sie fühlte sich gut an.

Etwas ausser Atem erreichte sie das Kurslokal gerade noch rechtzeitig und setzte sich auf den letzten freien Platz. Als sie aufsah, blickte sie ins Gesicht des Mannes, der ihr das letzte Mal aufgefallen war. Er lächelte sie an.

«Schön, dass du wieder gekommen bist,» flüsterte er, «ich heisse Walter.»

«Hilda.»

Walter deutete auf ihre Kette.

«Sie passt perfekt zur Geschichte, die wir gelesen haben, finde ich.»

Hilda lächelte.

«Da hast du Recht, der magische Stein, fast wie in der Geschichte von Steinbeck.»

Nach dem Kurs hielt Hilda Walter zurück.

«Falls du mit mir noch ins Café gegenüber kommen magst, erzähle ich dir, woher ich den Türkis erhalten habe.»

«Da bin ich aber gespannt.»

 

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