Von Ingo Pietsch
Es schüttete wie aus Eimern.
Ich saß gemütlich auf dem Sofa und zockte Videospiele.
Meine Freundin Sina, neben mir, tippte auf ihrem Handy herum, nahm Sprachnachrichten auf, machte Selfies und kicherte vor sich hin.
Draußen blitzte und donnerte es in einer Tour.
Ich war mitten in einem Endgegnerkampf – und es lief ziemlich gut.
Bei jedem Blitz zuckte ich zusammen, da ich fürchtete, jederzeit könne der Strom ausfallen. Und ich konnte im Moment nicht speichern.
Die Wohnzimmerbeleuchtung flackerte und mein Herz stockte.
Doch der befürchtete Blackout blieb aus.
Dafür klingelte es an der Tür.
Ich blickte halb zu meiner Freundin und halb auf den Fernseher, aber Sina machte keinerlei Anstalten aufzustehen.
Entweder hatte sie das Klingeln überhört oder sie ignorierte es einfach.
Es bimmelte abermals.
Mit schweißnassen Händen drückte ich auf meinem Controller die Pause-Taste und atmete tief durch.
Jetzt donnerte es, dass die Gläser im Schrank klirrten.
Und wieder betätigte jemand den Klingelknopf.
Leicht genervt vom ständigen Schellen ging ich den Flur und riss die Wohnungstür auf.
Im Treppenhaus stand ein älterer Mann im dunklen Trenchcoat und Hut. Er trug eine Brille und hatte Lachfältchen um die Augen und um die Mundwinkel.
Er stolperte einen Schritt zurück, als ich die Tür so abrupt öffnete und unsere Blicke sich trafen.
Meine Miene entspannte sich ein wenig, als ich in das freundliche Gesicht blickte, das mir irgendwoher bekannt vorkam.
„Ja, bitte?“, fragte ich mit noch zusammengepressten Zähnen.
Der Mann zog seinen Hut vom Kopf und sagte: „Mein Name ist Paulsen von der Kanzlei Paulsen und Paulsen. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ihr Großvater väterlicherseits vor einigen Wochen verstorben ist. Ich bin der Testamentsvollstrecker und soll seinen letzten Willen erfüllen.“
Ich war ganz platt. Ich erinnerte mich gut an meinen Opa. Bis zu meinem vierzehnten Geburtstag hatte ich regelmäßig meine Ferien bei ihm in einer Hütte in den Bergen verbracht. Es war so ein liebenswerter Mann gewesen, dass ich mich immer wieder gefragt hatte, warum er den Kontakt zu uns abgebrochen hatte. Mein Vater war darauf nie gut zu sprechen gewesen und meine Mutter wich immer aus, wenn wir über ihn redeten. Er hatte wohl in seiner Vergangenheit als Fremdenlegionär Dinge getan, auf die unsere Familie nicht sehr stolz war. Irgendwann erzählte mir meine Vater dann, dass er gestorben sei. Eine Lüge also.
Paulsen räusperte sich, da ich anscheinend doch etwas länger in meinen Tagträumen geschwelgt hatte.
Ich war gespannt, was ich geerbt hatte.
Der Anwalt zog einen gepolsterten Umschlag aus seiner Manteltasche und überreichte ihn mir.
Gedankenversunken nahm ich ihn entgegen und war im Begriff, wieder in die Wohnung zu gehen.
Paulsen war inzwischen zur Treppe gegangen, als mir etwas einfiel.
„Warten Sie!“, sagte ich.
Erwartungsvoll blickte er auf und lächelte dabei.
„Äh, brauchen Sie nicht eine Unterschrift von mir?“, fragte ich.
Seine Miene wurde ernster, über die Enttäuschung, so als hätte er sich als Dankeschön
einen Handschlag oder eine Umarmung gewünscht.
Wie ich jetzt ausgerechnet auf Umarmung bei einem Wildfremden kam, konnte ich absolut nicht sagen. Es war irgendwie Empathie.
„Ja, richtig“, antwortete er. Er hatte ein Dokument parat, das ich quittierte.
„Ich danke Ihnen und kommen Sie gut nachhause!“, verabschiedete ich ihn.
Er hob die Hand zum Gruß und erwiderte: „Auf Wiederschaun!“
Dann ging er treppab.
Niemand hier sagte: Auf Wiederschaun. Ich überlegte, woher ich das kannte. Mein Großvater hatte sich immer so verabschiedet. Und ich hatte bei dem Mann auch so ein vertrautes Gefühl gehabt.
„Warten Sie!“, schrie ich trotz vorgerückter Stunde ins Treppenhaus, doch da fiel schon die Haustür ins Schloss.
Ich sprintete drei Etagen nach unten und schaute in die dunkle, verregnete Nacht. Dort war niemand zu sehen, auch kein Auto, das wegfuhr.
Schade, dachte ich und schüttelte den Kopf. Ich ging wieder hoch.
Niemand hatte nachgesehen, wer da rumgeschrien hatte – die meisten schliefen schon.
Viel hatte mein Großvater mir anscheinend nicht hinterlassen.
Wieder oben angekommen, betrachte ich den Umschlag von allen Seiten und riss ihn schließlich auf. Darin befanden sich ein Brief und ein uraltes Handy aus den Neunzigern. So ein Backstein, der praktisch unzerstörbar war.
Ich ließ mich neben meiner Freundin nieder, die immer noch mit ihrem Social Media Kram beschäftigt war, schaltete meine Konsole aus – der Endgegner war mir inzwischen egal geworden und entfaltete den Brief.
„Liebster Enkelsohn,
leider war es mir nicht vergönnt gewesen, mich von dir zu verabschieden. Ich habe die Zeit mit dir auf der Hütte genossen und möchte sie nicht missen. Wir hatten viel Spaß, beim Wandern, Angeln und Fossilien sammeln. Ich habe hier noch deine ganzen Muscheln und Ammoniten im Regal stehen, die du gefunden hast. Es brach mir damals das Herz, als dein Vater den Kontakt zu mir abbrach. Aber ich kann ihn gut verstehen. Ich war damals als Söldner gezwungen, Befehle zu befolgen und Dinge zu tun, die nicht entschuldbar sind. Zu gern hätte ich mit dir noch mehr Zeit verbracht, aber das war leider nicht möglich gewesen. Wenn du diesen Brief liest, bin ich schon den Weg alles Irdischen gegangen. Es tut mir leid, dass unsere herzliche Beziehung so in die Brüche gehen musste. Viel habe ich nicht weiterzugeben. Die Hütte, das Land und mein finanzieller Besitz gehen an deinen Vater, der mir immer ein guter Sohn gewesen war und dem ich nicht verübeln kann, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Dennoch habe ich ihn geliebt. Wahrscheinlich wird er die Hütte und alles andere verkaufen, damit er nicht mehr an mich erinnert wird. Aber dir vermache ich etwas, das dir auf deinem Lebensweg noch eine große Hilfe sein wird.
Dein Großvater.“
Tränen liefen über meine Wangen.
Ich legte den Brief weg und nahm das Handy in die Hand. Es war gefühlt wirklich so groß wie ein Backstein und wog auch mindestens so viel. Ich drückte den Powerbutton, doch nichts rührte sich auf dem Display. Ich sah nach dem Ladeanschluss und musste feststellen, dass ich wahrscheinlich kein Kabel mit so einem Stecker hatte.
Resigniert stand ich auf und legte das Handy auf ein Sideboard.
„Kommst du mit ins Bett?“, fragte ich Sina.
Ich hielt kurz inne. Draußen regnete, blitzte und donnerte es immer noch. Wenn auch nicht mehr so stark. Trotzdem war mir so, als wäre der Mann vorhin nicht ein bisschen nass gewesen. Oder trog mich meine Erinnerung? Ich schüttelte den Kopf.
„OK“, meinte meine Freundin, schaute nicht mal von ihrem Smartphone auf und kam mir ins Schlafzimmer hinterher.
***
Am nächsten Tag ging ich gleich in der Innenstadt in einen Handyladen, nur um festzustellen, dass ich meine Erbschaft Zuhause hatte liegen lassen.
Auf dem Rückweg beschloss ich meine Eltern anzurufen.
Ich fragte meinen Vater, ob es stimmte, dass mein Opa erst vor Kurzem gestorben sei und ob er den Kontakt zu meinem Großvater abgebrochen hatte.
„Es war besser so gewesen, glaub mir“, antwortete er.
Ich legte auf. Die Zeit mit einem Großvater war immer eine sehr schöne gewesen, an die ich mich gerne erinnerte.
Mein Vater versuchte mich zurückzurufen, doch ich drückte ihn weg. Ich musste mich erst einmal beruhigen.
Dann kam eine Nachricht von Sina rein.
Ich schaute nach vorne, um nirgends gegen zu laufen und ging direkt auf eine grüne Ampel zu. Das würde ich schaffen.
Meine Freundin hatte mir ein Foto von sich geschickt, mit dem Untertitel, dass sie auf mich wartete.
Ich schmunzelte und wollte etwas darauf erwidern, als es plötzlich in meiner Jackentasche piepte.
So ein uralter Klingelton, wenn eine SMS rein kam.
Ich blieb stehen und fummelte in meiner Jackentasche herum.
In dem Moment fuhr ein Bus laut hupend direkt an mir vorbei.
Erschrocken blickte ich hoch: Die Fußgängerampel war rot!
Meine Nasenspitze schmerzte. Hatte der Rückspiegel des Busses sie gestreift?
Mein Herz klopfte wie wild. Ich setzte mich erst einmal auf eine Bank in der Nähe.
Wieder hörte ich das Piepen.
Ich zog das alte Handy hervor, das sich plötzlich wie aus dem Nichts in der Tasche befand und las die beiden Nachrichten:
ACHTUNG JUNGE!
Und: ICH PASSE AUCH IN ZUKUNFT WEITER AUF DICH AUF.
Und dem war auch so. Nicht nur dies eine Mal half mir mein Großvater. Wie auch immer das möglich war …
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