Von Monika Heil
Meine Beerdigung findet heute Mittag um eins statt. Es ist ein warmer Frühlingstag und ich bin dankbar, dass es mir vergönnt ist, der Zeremonie von oben aus zuzuschauen.
Soeben kommt Elena, meine beste Freundin. Viel zu früh! Das passt überhaupt nicht zu ihr. Was zum Teufel hat sie schon um elf Uhr auf dem Friedhof zu suchen? Ich fand den Ein-Uhr-Termin sehr praktisch für meine ehemaligen Kollegen, fällt sie doch in deren Mittagspause. Elena kommt ganze zwei Stunden zu früh! Gerade eben ist sie durch das große schmiedeeiserne Tor auf das parkähnliche Friedhofsgelände gekommen. Jetzt trippelt sie auf ihren hohen Absätzen den breiten Kiesweg entlang. Elena, du hast eine Laufmasche im linken Strumpf. Nein, sie hört mich nicht. Normalerweise hat sie eine sehr aufrechte Haltung und einen forschen Gang. Heute schaut sie aus den Augenwinkeln nach rechts und links, hält ansonsten ihren blonden Lockenkopf gesenkt. Es scheint fast, als wolle sie nicht gesehen werden. Dabei ist sie wirklich sehr ansehnlich, schlank, attraktiv für jeden Mann, der Augen im Kopf hat, hübsch und, wenn sie nicht gerade auf dem Weg zu einer Trauerfeier ist, ein fröhlicher Mensch. Ihr schwarzes Seidenkostüm ist offenbar neu. Ich kenne es jedenfalls nicht. Normalerweise weiß ich, was sie im Schrank hat. Also, für meine Beerdigung finde ich den Rock zu kurz, überhaupt wirkt sie auf mich ein bisschen over-dressed, aber chic. Was macht sie den jetzt? Stöckelt zu einem mit dichtem Buschwerk und hohen Laubbäumen bewachsenen Viertel und damit weg aus dem Radius, den ich einsehen darf. Dort befindet sich meines Wissens nur der Geräteschuppen der Friedhofsgärtnerei. Merkwürdig.
Inzwischen ist mehr als eine halbe Stunde vergangen und nix tut sich. Hier und da schleicht mal eine alte Oma mit Gießkanne und Jutebeutel über die sorgfältig geharkten Wege.
Ah, da ist sie. Offenbar hat sie inzwischen Karl-Heinz getroffen, denn sie kommen gemeinsam zurück. Ich kann Karl-Heinz nicht ausstehen. Der ist ein arroganter Wichtigtuer. Frauenheld. Gut, bei mir hat er es nie versucht. Aber alle meine Freundinnen könnten Geschichten erzählen. Ich sage nichts mehr.
Wieso ist die Laufmasche jetzt an ihrem rechten Strumpf? Elena! Du wirst doch nicht … Karl-Heinz, der ein paar Schritte hinter ihr geht, sieht das Malheur wohl auch, weist sie mit ausgestreckter Hand darauf hin. Elena dreht sich, blickt über ihre linke Schulter hinab zu ihrem linken Bein. Pass auf, dein Lendenwirbel! Schon passiert. Sie krümmt sich und heult auf. Vor Schmerz? Aus Wut? Karl-Heinz reicht ihr seinen Arm und sie humpelt mit seiner Unterstützung auf den Seitenausgang in Richtung Stadt zu.
War doch gut, dass sie so früh gekommen ist. So bleibt ihr noch reichlich Zeit, das Laufmaschen-Malheur zu beseitigen.
Die ersten Trauergäste trudeln ein, während die beiden – wahrscheinlich – mit Elenas rotem Cabrio davonfahren. Außerhalb der Friedhofsmauern ist mir die Sicht verwehrt. Was ist das für ein Geräusch? Klingt wie ein heftiger Zusammenprall zweier Blecheimer. Ach, da kommen ja meine lieben Kollegen. Alle dreizehn gemeinsam. Denken die nicht daran, dass ich abergläubisch war? Andererseits, wenn sie mich mitzählen, sind wir ja vierzehn aus unserem Büro.
Eben kommt auch der Pfarrer unserer Gemeinde. Ich habe ihn zu meinen Lebzeiten nicht gekannt. Irgendwoher weiß ich dennoch, dass wir ein Jahrgang sind. Ich finde, er sieht viel älter aus als ich. Noch trägt er seinen Talar über dem Arm. Sein Anzug wirkt eine Nummer zu groß und hängt an ihm, wie ein nasses Hemd auf der Wäscheleine. Seine Nase scheint von Karl Valentin geborgt zu sein. Die Haare sehen aus, als seien sie mit einen Rasenmäher in Berührung gekommen, der auf Stufe eins geschaltet war. Und was ist das? Braune Schuhe zum schwarzen Talar! Typisch Junggeselle!
Da kommen Tante Annemarie und Onkel Herbert. Meine Güte, ist der alt geworden! Und da ist Lenchen. Sie hat die weite Reise nicht gescheut. Ach die Gute.
Jetzt fangen die Glocken an zu läuten. Wo bleibt Elena? Das fragt sich offenbar auch Klaus-Dieter, ihr Mann. Ein schrecklicher Pedant. Er steht im tadellosen schwarzen Nadelstreifen auf der obersten Treppenstufe vor der schweren Eichentür zur Trauerhalle. Es sieht eher aus, als wolle er zu einem Fest, denn zu meiner Beerdigung. Ungeduldig schaut Klaus-Dieter immer wieder auf die Uhr. Na endlich. Da kommt sie. Keine Laufmasche mehr. Tadellose Erscheinung. Geht sie ein bisschen gebeugt? Ich weiß nicht, liegt das am Hexenschuss oder ist der Kranz so schwer? Die Bandage um ihren Unterarm wirkt wie ein Fremdkörper. Viel zu weiß bei ihrer tiefschwarzen Aufmachung. Warum hat sie jetzt eigentlich den Arm verbunden? Auch Klaus-Dieter schaut ganz überrascht. Er tippt mit dem Finger auf seine Armbanduhr. Seine Miene wechselt wieder auf finster. Schau nicht so böse. Um elf war sie überpünktlich. Gut, jetzt ist sie ein bisschen spät dran.
Wo ist Karl-Heinz geblieben? Eigentlich egal. Der hat auf meiner Beerdigung sowieso nichts zu suchen. – Mein Gott, bin ich jetzt erschrocken. Was machst du denn hier oben im Krankenhausnachthemd und mit diesem schrecklichen Kopfverband, Karl-Heinz? Sieht aus, wie ein Turban. Echt ätzend.
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