Von Clara Sinn

Ich hab mich 

umgebracht. 

Weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Es nicht ändern zu können. 

Der Selbstmord hatte sich gelohnt. Sie fühlte sich ausgesprochen wohl in ihrer Haut. 

So als Geist. 

Himmel, was man alles erfuhr! So im Nachhinein. Sie liebte es nämlich, muss man fairerweise zugeben, hinzuschweben, wo alte Neugierden sie schon immer hatten gucken lassen wollen. Wie in die Nachttisch-Schublade ihrer alten Lateinlehrerin. Die wirklich alle Klischees erfüllte. Vom personifizierten bigotten milden Abendleuchten. Mit Dutt. 

Es machte einen Heidenspaß. Mal so zu checken, was sie sich da alles erspart hatte. 

Wollte es.

Genauer. 

Wissen. Entschied, an jedem neuen Tag, einen ihrer Verflossenen zu besuchen.

Es machte keinen Spaß. Vertreter geworden, erzbraver vielfacher Familienvater. War zu seiner allerersten Freundin zurückgekehrt und ihr treu geblieben, aktuell Trauer. Um den Hund. 

Was machte eigentlich A.? Hatte er seinen heißersehnten Erben noch gekriegt? Tja, der eine hat ein Kind zu viel, der andere eins zu wenig.

Es war eine seiner allerersten Fragen gewesen, ob sie Kinder kriegen könne. „Du bist jung, du bist intelligent, du hast keine Altlasten.“ Ob sie denn wenigstens bereit wäre, das rückgängig machen lassen zu wollen. Mit der Sterilisation. Er habe sich, „Schau doch …“, den Arsch aufgerissen für das ganze Geld, zugegeben, überaus erfolgreich, „… soll das mal alles den Bach runter?“ 

F. war erwartungsgemäß an seiner Fettleibigkeit zugrunde gegangen. Trotz Stands. Weit viel zu früh.

S. an seiner Drogensucht wiederum unerwartet verstorben. Er hätte echt das Zeug gehabt. Die Lieder, die er ihr komponiert hatte! Oder das Graffito, das er ihr an die  Bahnmauer gesprüht hatte! Zum Geburtstag. Er war der einzige, der sie aus wilder Begeisterung emporgehoben hatte ganz hoch in die Luft und sich irr mit ihr im Kreis gedreht. So oft. Zum Glück, so oft. Bevor er zurückgegangen war nach Griechenland. 

Und sie hatte gedacht, nur sie habe Probleme. 

Sie habe ein schlechtes Los gezogen. 

Was machte ER überhaupt so? 

Dieser üble Unverbesserliche. 

Frevler. Er saß in seinem geliebten alten Sessel. Warf sich gerade eine Tablette ein. Er hatte diesen schwachen Magen. Kein Wunder. 

Dann aber, als er das Glas geleert und wieder abgestellt hatte auf diesen fleckigen Kork-Untersetzer, haute er sich mit beiden Händen auf die Schenkel und erhob sich. Mit einem einzigen Ruck.

Begab sich zur Flurgarderobe, schnappte sich eine der ollen Anzugjacken. Und den Schal. Ganz der Alte. 

Sie folgte ihm quer durch die verregnete Stadt. Es war auch schon langsam dunkel, die Autos hatten mehrheitlich Licht an. Er auch. 

Da schweifte sie irgendwie ab. 

Der Schönling von der Ampel. 

Aber nur kurz. 

Stieg mit ihrem Ex in einem Jugendstilhaus eine Wendeltreppe hoch. Trat mit ihm ein. In einen Raum wie ein Salon. An der Wand Gemälde. Ein Vertiko. In der Ecke ein Ficus. Auf dem schweren Teppich Klappstühle. Vier Reihen. Eine Lesung?

Aber kein Pult? Der Raum füllte sich, in kurzen Abständen klingelte es an der Tür, sie schienen alle ziemlich pünktlich zu sein und einander gut zu kennen, kurze eher stille herzliche Begrüßung, öfter gänzlich wortlos, jeder setzte sich zielstrebig auf seinen Platz.  

Einer stand auf und hob an zu sprechen. Die Anonymen Alkoholiker. 

Sie wandte sich unvermittelt um, sich noch einmal zu vergewissern. 

Dieser so hartnäckige Verweigerer. 

Stolze Ministerialrat. Assessor juris. 

Saß da in der letzten Reihe. Und stierte vor sich. Ins Nichts. Hinter dem Vordersitz. 

Er würde nichts sagen. Kein Mann der Worte. Nur, wenn man ihn in die Enge trieb. 

„Wie stellst du dir das denn vor!?“, hatte er jedes Mal die Diskussion jäh beendet, „Ich bin hier Staatssekretär!!“ 

Das alte Gefühl bemächtigte sich ihrer wieder. Von A bis Z. Von Ausweglosigkeit bis Zwickmühle. Und Aufgeben bis Zugzwang. Und auch: auf einmal zu Ende.

Und sie kroch diesem Mann in Anzugjacke über dem Pullover, der seinen abgelegten Seidenschal so stumm wie übel malträtierte, unter die Haut, unter die Schädeldecke, bis in die früher unnachgiebigsten Hirnwindungen, um es ja ungefiltert mitzukriegen, was sein alkoholzersetztes Denkorgan … 

In Wiederholungsschleife dieser einzige Feuchtwanger-Satz: Ich liebe sie mehr als meine unsterbliche Seele.

Er meinte mitnichten

die Cognac-Flasche. 

 

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