Von Ina Rieder

Tirol, 1809

Vor wenigen Stunden sah er das Kind noch durch das Dorf springen, mit dem Schneegestöber tanzen und weiße Kugeln formen. 

„Schneeflöckchen, Weißröckchen, vom Himmel da kommst du geschneit…“, trällerte es fröhlich vor sich hin. 

Warum es nun tot war, vermochte er nicht zu sagen. So schön und so friedlich sah es aus, wie es da im Nachthemdchen im Schnee lag. Das rundliche Gesicht gen Himmel gerichtet, die Augen geschlossen, ein weiches Lächeln umspielte die blauen Lippen. Hatte es etwas Schönes geträumt, das es erfreute, bevor es hinüberging? Seidenzart seine Haut, bleich wie das Eis, das es umgab. 

Zwar zog die Nacht herauf, doch der Schnee leuchtete erhaben zum Trotz. Über ihnen strahlten klar die Sterne, klirrende Kälte beherrschte die Winterstille. Auf einmal senkten sich Schneeflocken herab und deckten das Kindchen zu. Er streckte seine Hände mit den Handflächen nach oben aus, segnete es. Plötzlich durchzuckte ein Schauder seinen Leib, eiskalte Blitze bohrten sich in sein Gehirn. 

War ich das etwa? 

***

Im Winter gegen fünf schon zappenduster, um acht ins Bett. Die Mutter gegen zweiundzwanzig Uhr erneut erwacht, geht in die Kammer des Kindes. Und fort war es!

Seit Stunden suchten sie schon nach ihm. Er hörte sie: Knirschende Schritte, die immer näher kamen, Hunde, die schnüffelten, lechzten und bellten. Licht, das die Umgebung durchflutete.

„Isabel! Isabel! Isabel!“, schallte es durch die finstere Nacht. Warum nur hat niemand das Kindchen besser bewacht? Ein Fünkchen Angst kroch aus seinem linken, kleinen Zeh, dehnte sich langsam bis in die letzte Haarwurzel aus. Wild klopfendes Herz, übelriechender Schweiß. Wohin nur mit ihm selbst? Spuren im Schnee, gefrorene Finger, kalter Schmerz.

***

Tagsüber ging er selten aus, blieb lieber zu Haus, sehnte den Schutz der Nacht herbei. Seine Füße trugen ihn im Halbschlaf, benebelt und elend, seiner Begierde folgend, dorthin, wo es schließlich besser behütet hätte werden sollen – das Kind. Vorsichtig drückte er die Türklinke nach unten, drang in fremdes Terrain. Warum ging es so leicht, so mühelos? Die Treppe nach oben, folgte er mit pochendem Herzen dem Flur. Vorbei am elterlichen Schlafzimmer, hinein in die Kammer des Kindes. Ein Hauch von Kamille mischte sich mit der Würze seiner strengen Körperdüfte. Das Kind betrachtend, seinen ruhigen, regelmäßigen Atemzügen lauschend, nahm er ein Daunenkissen aus dem Bettchen. Er wiegte das Polster in seinen Armen, sog den Geruch genüsslich ein. Der Drang, das Kissen auf dem ebenmäßigen Gesicht niederzudrücken, erwachte, wuchs mit jedem Atemzug, steigerte sich von Sekunde zu Sekunde.

***

„Hier ist es! Ich habe es gefunden! Hilfe!“, schrie er inbrünstig, panisch und kraftvoll. 

Erhaben stand er inmitten einer Lichtung, das tote Kind in seinen Armen. Die Nacht zog langsam über ihn hinweg. Warum waren keine Spuren von kleinen, nackten Füßchen im Schnee? Überhaupt, wie hätte es denn barfüßig hierherkommen können? Wie? Es konnte doch nicht hierher geschwebt sein! Oder doch? Niemand im Dorf interessierte sich dafür. Zu eindrucksvoll, dieses Bild, des Helden, der es endlich gefunden hatte. Tot zwar, aber entdeckt. Nun konnte es beerdigt, endlich ein Abschluss gemacht werden. Da standen sie nun alle, im Schnee, so elend und doch zusammen. Das Dorf im Wald. Der Wald im Winterglanz. 

Es durchzog ihn nochmals die Wonne, die er verspürte, als er das Daunenkissen auf das Gesicht des Kindes niederdrückte und ihm seinen letzten Atemzug nahm. Ein Kribbeln zog durch seinen Körper, bebte durch seine Gehirnwindungen und verebbte im Nichts. 

Was für eine Schande! Wer nur kann so etwas fertigbringen?

„Du warst es, du Satansbraten!“, flüsterte ihm eine Stimme ins Ohr.

Wieder einmal war er davongekommen. Gefeiert sogar, da er dem Elend ein Ende bereitet hatte. Er würde noch ein paar Monate warten, bis sich Eis über die Sache gelegt hatte, ein anderes Ereignis die Dorfbewohner beschäftigen würde. Dann aber hieß es ziellos weiterziehen. Es gab noch so viele andere Kinder auf dieser Welt. 

***

Er wälzte sich unruhig in seinem Bett, fand nicht in den Schlaf. 

„Du warst es, du Satansbraten!“, hallte es durch die Windungen seines Gehirns. Plötzlich tauchte seine Mutter wie ein Sprühnebel vor ihm auf. Sie stand nah an seinem Bett, hielt eine zerbrochene Schere drohend in die Luft.

„Ich hab doch nichts getan! Ich bin ein gutes Kind!“, rief er. 

 Sie packte ihn mit einer Hand im Nacken, mit der anderen drückte sie seinen Kopf mit dem Gesicht nach unten tief in das Kissen. Er bekam bald keine Luft mehr. Japste danach, als sie wieder von ihm abließ.

„Nur ein totes Kind ist ein gutes Kind“, erwiderte sie.

Neben der Stimme seiner toten Mutter gesellte sich die liebliche Stimme des soeben von ihm getöteten Kindchens hinzu.

„Ich war auch ein gutes Kind“, beteuerte es.

 

V3 (4791 Zeichen)