Von Bernd Kleber

Ich glaube, man kann die Menschen einteilen nach Liebhabern von Hunden oder Katzen. Ganz grob! Sicher gibt es noch die Nager-Fans oder diejenigen, die lieber Aquarien oder Terrarien hegen. 

In unserer Familie verhält es sich jedenfalls so, dass die Verwandtschaft mütterlicherseits Hundefreunde sind und die Angehörigen der väterlichen Seite Katzen lieben. Meine Mutter besitzt einen Dackel, ihre Mutter einen Jack Russell Terrier. Der Vater meines Vaters lebt mit einem Kater.

Nun kam es, dass wir uns alle bei jenem Opa trafen. Ein schwerer Tag, weil er verblichen war. Mir war sehr wehmütig. Ich erinnerte mich an so viele schöne Stunden mit ihm und wie sehr er mich in vielen Dingen geprägt hatte. Meine Cousinen kamen, meine Tante und mein Onkel mit ihren Eheleuten und natürlich meine Eltern. Mein Vater war ganz klein und schmal anzusehen, war regelrecht zusammengesackt, so schmerzte ihn der Verlust seines alten Herrn.

Wir saßen in der Wohnstube, es roch nach kaltem Kaffee, abgestandener Luft und alten Büchern. Und über allem waberte der Geruch nach Modest, dem Kater meines Opas. Man teilte Erinnerungen, sprach von Vergangenem, bis meine Cousine fragte, wer denn nun den Kater zu sich nähme. 

Plötzlich wurde es still. Aber nicht aus Pietät, sondern eher wie in einem Wettbewerb, wer zuerst reagiert, bekommt den Kater. Meine Mutter meldete sich und meinte, mit ihrem Dackel würde das leider nicht funktionieren, die Cousinen und Oma schlossen sich an. Wobei die Cousinen ihre Kleinkinder anführten.

Und dann folgte dieser magische Moment: Alle schauten auf mich.

Eine Hitzewelle überrollte mich.  Wie damals vor der Gedichtrezitation in der Oberstufe. „Das Lied von der Glocke“. 19 Strophen. Nur, falls es jemanden interessiert. 

Ich hielt die Luft an und sah von Augenpaar zu Augenpaar. In meinem Kopf rotierten die Argumente gegen das Tier. Die Wahrheit war, ich hatte Angst vor Modest. Dass dieses gewaltige Fellknäuel noch als Hauskatze durchging, war unglaublich. Er war doppelt so groß wie Mutters Dackel. Und befreundet waren wir übrigens überhaupt nicht. Mehrfach hatte er mir im Wohnzimmer oder im Flur meines Großvaters aufgelauert. Bewegte ich mich durch einen dieser Räume, sprang er mitunter hinter einer Deckung hervor, um mir unter Geschrei seine Krallen ins Bein zu schlagen und sich zu allem Überfluss noch zu verbeißen. Ich hatte immer Glück, wenn ich robustere Jeanshosen trug, sodass der Schmerz nicht allzu heftig ausfiel. Mein Großvater amüsierte sich jedes Mal und meinte dann: „Nun guck dir diese Kampfkatze an. Schärfer als ein Tiger.“ Dass ich Wunden hatte, tat der alte Herr immer als lächerlich ab, würde doch Modest nur spielen.

Meine Mutter meinte schließlich, während ich noch nach Ausflüchten suchte: „Aber Gregor, bei Dir wäre er doch perfekt aufgehoben. Er kennt dich und ihr passt gut zusammen. Du bist doch der Katzentyp!“ 

„Katzentyp, Ich?“, fragte ich nach.

Ich stammelte nun: „Wo ist denn das Tier? Vielleicht ist er ja vor Gram gestorben über den Verlust seines Herrchens?“

Meine Cousine rief aus der Küche: „Hier ist er. Ich gebe ihm gerade Hühnerherzen. So ein Appetit, er schlingt wie ein Verhungernder. Süß!“

Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen. Dann schaute ich hoch und fragte leise: „Tierheim?“

Da brach ein Sturm der Entrüstung los. Man hätte dem Alwin auf dem Totenbett versprochen und so weiter und so fort und die Krönung unisono: Wie könne ich nur so herzlos und verantwortungslos sein?

Es war beschlossene Familiensache. Ich wurde zwangsverpflichtet zum Katzenhalter. Meine Mutter kam mit dem Katzenkorb und meinte: „So mein Junge, hier steckst du das Tier hinein.“ Ich sah sie unschlüssig an. Dann kniete ich mich hin und rief „Mulle, Mulle, Mulle, Modest, Modestchen, miez … miez … miez.“ 

Nichts passierte.

Meine Cousine Astrid begann zu lachen, sodass sie sich verschluckte. Das fand ich irgendwie fies, das Lachen. Aber es half nichts. Mit Ausnahme meines Vaters krochen nun alle durch die Wohnung. Die Futterexpertin Lena kam dann mit ihm auf dem Arm. Er lag rücklings, sein Schwanz schien eine Art Eigenleben wie eine Schlange zu führen und ringelte sich um ihren Arm. Der Kater selbst röhrte wie ein Löwe in der Brunft. Lena ließ den Kater in seine Sänfte fallen und klappte die Gittertür zu. Modest quittierte dies mit einem Kampfanfall, schlug mit seinen Tatzen fauchend gegen das Gitter, das beunruhigend nachgab. Der Korb wurde mitten im Raum abgestellt. Meine Mutter trat mit einer großen gefüllten IKEA-Tragetasche auf: „Na, da haben wir’s ja. Abmarsch! Komm, wir fahren dich nach Hause.“

Ich fühlte mich überlistet. Hatte ich nicht aufgepasst an der entscheidenden Stelle der Intrige?

Vor meinem Wohnhaus angekommen, verabschiedete ich meinen schluchzenden Vater. Meine Mutter klopfte mir auf die Schulter: „Mein Löwendompteur“ und half die Tüten und Kisten reinzutragen und verabschiedete sich eilig. 

Ich wohnte Parterre. In der Küche mit Fenster zum Hof stand nun verloren der IKEA-Beutel und der Katzenkorb neben dem Katzenklo. Immer wenn ich mich dem Transportkorb näherte, fauchte darin Modest und seine Krallen schlugen energisch gegen das Gitter. 

Ich nahm allen Mut zusammen und öffnete die Tür. Durch einen Schlag des Katers flog sie weit auf und er rannte geduckt unter die Küchencouch. Von dort fauchte er drohend. Ich schlich vorsichtig, aber schnell, an der Couch vorbei ins Wohnzimmer und setzte mich dort. Nachdenken!

Wie lange ich sinniert hatte, kann ich nicht sagen. Aber irgendwann bin ich in die Küche zurück und griff mir beherzt den wuchtigen Möbelhausbeutel. Darin waren die Spielsachen, die ich nun wie Blumensamen in der Wohnung verteilte. Danach stapelte ich die Futterdosen und Leckerlipackungen in der Küche neben dem Herd. Am Ende hatte ich einige Verpackungsreste und viel Abfall. Da mein Müllbeutel ohnehin voll war, nahm ich alles zusammen und gedachte es sofort rauszubringen.

Woran ich nicht dachte, war Modest. Ich hatte kaum die Wohnungstür geöffnet, da katapultierte er an mir vorbei wie der Schatten einer Sturmwolke. Und er lief zielsicher Richtung Hof, wo die Tür garantiert wieder offen stand. Ich eilte hinterher. Sie stand offen!

Nachdem ich meinen Abfall entsorgt hatte, stand ich wie ein Leuchtturm mitten im Hof und rief „Modest, komm! Komm, Modest! Wir gehen wieder rein!“ Nichts tat sich. Bewegten sich die Gardinen im ersten Stock?

Also ging ich allein hinein und war gespannt, wie sich dieses Problem erledigen würde. Vielleicht war das Ganze schon gar kein Problem mehr? Vielleicht würde Modest jetzt von einem echten Katzenmenschen adoptiert? Ein schlechtes Gewissen überkam mich.

Ich saß keine fünf Minuten auf der alten Küchencouch, da klingelte es. Vor der Tür stand meine Nachbarin von schräg über mir, Frau Kalweit. Sie hielt einen Teppichklopfer in der Hand und trug ein Kopftuch. „Gregor, so jeht it aber nich. Is dat Ihr wildes Tier da draußen, diese Wildkatze – und ick bin mir sicher, dass es eine ist –, lässt niemanden an den Mülltonnen vorbei. Ick muss an die Kloppstange mit meinem Teppich. Aber ick trau ma nich. Noch nie habe ick so ein riesiges Katzenmaul jesehen und wie das Tier faucht. Bitte holen Se Ihre Kampfmaschine rin!“

Ich ging hinaus, da kam Modest auf mich zugelaufen, strich mir um die Beine und als ich mich bückte, sprang er mir in den Arm. Was war denn mit dem los? Hatte er vor Frau Kalweit kapituliert? 

Kaum, dass wir in der Wohnung waren, stürzte er hinab und fauchte mich erneut an. Ich stellte ihm schnell Futter hin und flüchtete ins Wohnzimmer. Bis zur Nacht herrschte in der Wohnung friedliche Koexistenz.

Ich schlief in dieser Nacht unruhig, warf mich hin und her, wurde immer wieder wach. Modest polterte in der Küche, er klapperte im Bad, dort wo das Katzenklo stand, für mich fremde Geräusche von überall.  Wieder wurde ich nach einem Knall wach, der Wäscheständer war wohl umgekippt. 

Als ich hochschreckte, traute ich meinen Augen nicht, an meinem Bett saß eine Gestalt. Keine Bewegung wagte ich. Schließlich sprach der Mann: „Gregor, was ist los mit dir. Du musst auf Modest hören. Wenn er faucht, mach seine Lieblingsmusik an. Dann will er schlafen oder schmusen. Wenn er sich verkriecht, will er nur Ruhe. Lass ihn am Tag hinaus, dann hast du weniger Katzenklodreck und er ist ausgeglichen. Und besänftigen geht auch mit Hähnchenherzen, die liebt er über alles. Und achte darauf, wenn er wie jetzt laut miaut, dann stimmt etwas nicht, geh nachsehen!“ 

Ich überlegte noch, was seine Lieblingsmusik sein könnte, da antwortete mein Opa: „Das große Tor von Kiew, Modest, Modest!“ Als ich das Licht anknipste, war er fort. Ich rieb mir ungläubig die Augen.  

In dem Moment hörte ich aus dem Korridor erst ein lautes Fauchen, dann ein noch lauteres Poltern, dann: „Verdammt, aua, weg, du Vieh!“ und dann nur noch Gebrüll. Ich rannte in den Flur. Da lag ein Mann mit Sturmhaube auf dem Boden und rang mit seinem Bein, an dem Modest sich festgebissen hatte. Ein Einbrecher! Die Wohnungstür stand offen. Ich holte schnell das Telefon, um die Polizei zu rufen, da kamen zwei Polizeibeamte in die Wohnung gestürmt, gefolgt von Frau Kalweit. Ein lautes Durcheinander, ich wusste gar nicht was zuerst geschah und der Einbrecher wurde abgeführt. Modest fläzte sich nach getaner Arbeit auf die Couch. Frau Kalweit schnatterte im Flur mit einem der beiden Beamten.

Dann berichtete sie mir, wie sie den Einbrecher vom Fenster aus beobachtet hatte, als der in den Hof geklettert war. Sie hatte oben an der Tür gelauscht, wie der Verbrecher sich an meiner Tür zu schaffen machte und die Polizei alarmiert. Ich lobte sie über Gebühr und wünschte dankbar: „Gute Nacht!“.

Als ich mit dem Kater wieder allein war, legte ich „Bilder einer Ausstellung“ des Komponisten Modest Mussorgsky auf und mein Held des Abends schnurrte, als „Das große Tor von Kiew“ durch das Wohnzimmer jubilierte, sanft wie ein Katzenbaby auf meinem Bauch liegend. 

Ich denke, wird was mit uns beiden. Katzenmensch?

V3/9935