Von Agnes Decker

Da sitzt sie. Zwei Reihen vor mir. Ich habe sie nicht einsteigen sehen. Jetzt schüttelt sie den Kopf, mit der ihr eigenen Bewegung, so dass die hellen Locken, die immer ein bisschen so aussehen als wären sie noch nass, ihr weit über den Rücken fallen. Das wirkt, als sei sie voller Lebensfreude. Es macht mich glücklich, dass sie so fröhlich ist.

Wir sind die einzigen Fahrgäste. Draußen regnet es. Tropf, tropf, tropf, prallt das Wasser an die verschmierten Scheiben. Ich sehe mein Spiegelbild. Einen nicht mehr jungen Mann mit einer steilen Falte auf der Stirn. Das Gesicht verliert im matten Licht seine Konturen, wird weich und unförmig. Die Regentropfen laufen an ihm herunter. Es sieht aus, als ob er weint. Der Mann, der ich sein soll. Aber ich weine nicht. 

Die Frau vor mir steht auf und tritt an die Tür. Tine, will ich rufen, aber kein Ton kommt aus meinem Mund. Da sehe ich, dass ihre Schultern breit sind, ihre Bewegungen hart und kantig. Das kann nicht sein. Tine ist doch zierlich und anmutig, nicht so grob. Oder täuscht mich meine Erinnerung?

Der Bus hält und die Frau steigt aus. Ich springe auf, bleibe dicht hinter ihr. Ich muss sie von vorne sehen, ihr Gesicht. Die Figur kann sich ja ändern. Das kann sie doch. In einer so langen Zeit. Es sind fast drei Jahre. Das ist doch lang. 

Jetzt geht sie schneller, die Frau vor mir. Hat eine Kapuze über ihr Haar gezogen. 

„Hallo“, rufe ich. Meine Stimme klingt hoch, zu hoch für einen erwachsenen Mann. Die Frau reagiert nicht. Schneller und schneller geht sie durch die menschenleere Straße, in die wenige Straßenlaternen ihr mattes Licht werfen. „Hallo“, rufe ich noch einmal, und: „Sie brauchen keine Angst zu haben.“ 

Die Frau läuft jetzt vor mir her. Ich kann ihr Keuchen hören, so nahe bin ich hinter ihr. Niemand außer uns beiden ist zu sehen. Wir sind ganz alleine. Der Regen hat zugenommen. Das Wasser rinnt mir über den Kopf in den Nacken. Die Frau dreht sich um. Im Schein der Straßenlaterne kann ich kurz ihr Gesicht sehen. Es ist sehr jung, fast noch kindlich, etwas grob, mit einem großen Mund. Ganz anders als Tine, bei der alles ebenmäßig ist, zart und wie mit einem  feinen Pinsel gemalt. Was habe ich erwartet? Dass sie plötzlich wieder da ist? Einfach so, als wäre sie nie weg gewesen?

Ich bleibe stehen, drehe mich abrupt um und gehe zurück. Langsam jetzt, mit schlurfenden Schritten. Als wäre ich um Jahre gealtert. In den wenigen Minuten.

An der Haltestelle steht niemand. Die Glasscheibe, hinter der einmal der Fahrplan hing, ist eingeschlagen, aus dem Mülleimer quellen Pizzakartons. Ich schaue auf die Uhr. 19.30 Uhr. Der nächste Bus kommt in zehn Minuten. Ich weiß es. Habe mir die Abfahrzeiten aufgeschrieben, bevor ich losgegangen bin. Normalerweise fahre ich nicht mit den Öffentlichen. Fuhr ich nicht, sollte ich sagen. Damals, als die Welt noch in Ordnung war. Als ich morgens pfeifend in der Küche stand und zwei Müsli zubereitete, mit Porridge, Obst und Nüssen und obendrauf einen großen Löffel Joghurt und Ahornsirup. Eine Schüssel für sie und eine für mich. Morgen für Morgen. 

„Papa, du musst damit aufhören.“ Wie erwachsen meine Tochter sich anhört. Als ob das so einfach wäre. Aufhören damit. Womit? Mit der Hoffnung? Oder mit der Verzweiflung, der Angst? Mit den Bildern, die in den durchwachten Nächten auftauchen? Sich nicht wegwischen lassen. Selbst der Alkohol kann sie nicht weichspülen, ihnen ihre Bedrohung nehmen. 

„Du musst es versuchen, Papa.“  Ich schaue mich um. Als ob ich erwarte, dass sie neben mir steht. An dieser einsamen Bushaltestelle. Gemeinsam mit mir nach Hause fahren will. Ist es so, wenn man wahnsinnig wird? Stimmen hört, die nicht da sind? Menschen sieht, die tot sind? Nein, das darf ich nicht denken. Nicht herauf beschwören. Ich würde es doch spüren, wenn sie tot wäre. Ich bin doch ihr Vater. 

Wir hatten immer eine enge Verbindung, Tine und ich. „Ich bleibe bei Papa“, hatte sie gesagt nach der Trennung von Katrin.  Bei mir wollte sie leben, meine Tochter. Das hat mich stolz gemacht. Habe mich wie ein guter Vater gefühlt. Damals. Noch. Wir hatten es schön miteinander. Waren ein wunderbares Team. Im Alltag und bei unserem gemeinsamen Hobby. Laufen. Fast jeden Abend. Durch die hintere Gartenpforte auf den schmalen Weg, der um den See führt. 

Irgendwann ist sie ihre eigenen Wege gegangen. Ich habe sie gelassen. Wollte ihre Freiheit nicht beschränken. Dachte ja, dass ich ein guter Vater wäre. Bis sie einfach nicht mehr wiederkam. Von einer Party in der Nachbarschaft. Verschwunden war, als hätte es sie nie gegeben. Gerade einmal siebzehn Jahre alt. Ich hätte aufpassen sollen. Sie nicht alleine nach Hause gehen lassen sollen. Mitten in der Nacht. 

„Hör auf, Papa. Reiß dich zusammen. Es ist schon wieder ein Mädchen verschwunden. Du musst es finden. Tu es für mich.“  Tines Stimme klingt hart.

Ich weiß. Die Nachrichten sind voll davon. Aber was sollte ich wohl tun? Ein gebrochener Mann, seit langer Zeit nicht mehr arbeitsfähig, schon morgens den Schnaps auf dem Tisch. Mit einer Tochter sprechend, die es nicht mehr gibt.

„Jetzt hör endlich auf mit dem Selbstmitleid, Papa. Irgendwer muss doch was tun. Die Polizei kriegt es jedenfalls nicht auf die Reihe.“  

Mir wird schwindlig. Ich halte mich an der Glasabtrennung  der Haltestellenüberdachung fest und atme tief durch. Verdammt, sie hat recht. Ich sollte aufhören mit diesem Selbstmitleid. Mich zusammenreißen. Wie durch einen Nebel sehe ich den Bus anfahren. Die Tür öffnet sich direkt vor mir. Ich steige ein. Der einzige Fahrgast an diesem dunklen, verregneten Herbsttag. 

Plötzlich sitzt sie da. Direkt vor mir. Habe sie nicht einsteigen sehen. Ihr  blondes, langes Haar fällt ihr weit über den Rücken. Ein Adrenalinstoss jagt durch meinen Körper. 

„Mann, Papa, nicht schon wieder. Das bin nicht ich. Die Frau ist größer, ihr Haar dunkler und nicht so lockig wie meins. Das musst du doch sehen. Schau hin, Papa, bitte.“ Tines Stimme lässt mich aufschrecken.

Du hast ja recht, mein Kind. Aber es ist wie ein Sog. Muss hinter ihnen her gehen. Das hält mich am Leben. Der Moment der Hoffnung. Diese Minuten des Zweifels. Wenn ich atemlos darauf warte, ihre Gesichter zu sehen.  Das ist alles, was ich habe. Die Zeit, bevor sie sich umdrehen. Obwohl ich weiß, dass nicht du es bist. Das ist verrückt. Aber ich kann nicht anders. 

Die Frau vor mir ist aufgestanden. Bevor ich mich ebenfalls erheben kann, spüre ich eine Berührung auf meiner Schulter. Federleicht, wie die Hand eines Kindes.

„Nein, Papa, bitte. Du musst helfen. All den Mädchen, die noch verschwinden werden und all den Eltern, die darauf warten, dass ihre Töchter gefunden werden, lebend oder tot. “ Tine spricht schnell und drängend. 

„Okay, okay“, höre ich mich sagen. „Aber du musst mich führen. Du alleine kennst ihn. Es ist doch ein Mann. Oder?“ 

Sie schweigt. Das tut sie immer, wenn ich sie frage. Nach dem Täter, der sie einfach mitgenommen hat. Sie irgendwo festhält. Vielleicht .

Ich atme tief durch. Schaue zu, wie die Frau den Bus verlässt und in die Nacht geht. 

„Gut Papa, so ist es gut.“ Ich höre die Erleichterung  in Tines Stimme.

Ich werde weiterfahren. Bis zur Endhaltestelle. Dort, wo sie den Parkplatz am Wald mit dem rot-weißen Band abgesperrt haben. Werde mich einreihen. Zentimeter für Zentimeter absuchen.  Seite an Seite mit Vätern, Brüdern, Onkeln und Nachbarn. Mit ihnen den Namen des  verschwundenen Mädchens rufen. Immer und immer wieder. So wie ich deinen gerufen habe, damals vor drei Jahren.

 

Ruckelnd setzt sich der Bus wieder in Bewegung. Es hat aufgehört zu regnen. Ich sehe mein Spiegelbild in der verschmierten Fensterscheibe. Ein nicht mehr junger Mann,  der die Lippen fest zusammenpresst. Hinter ihm steht ein junges Mädchen. Lächelnd beugt es sich über ihn, so dass die hellen, gelockten Haare, die immer ein bisschen so aussehen, als ob sie nass wären, seinen Kopf berühren. 

 

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