Von Björn D. Neumann

Es war am frühen Abend, als ich mein Auto auf dem Besucherparkplatz der Burgruine parkte. Die letzten Besucher machten sich bereits auf den Rückweg. Ich aber wollte die letzten Sonnenstunden dieses heißen Augusttages dazu nutzen, die besondere Atmosphäre aufzusaugen und direkt auf Papier zu konservieren. Dafür war dieser Schauplatz meines Roman-Projekts perfekt. Also schnappte ich mir meinen Rucksack mit dem Laptop von der Rückbank und machte mich auf den Weg.

Ich überquerte die Brücke, die über den Wassergraben führte, der aus dem angrenzenden See gespeist wurde und durchschritt das Burgtor, in einem der drei hufeisenförmigen Türme, die den Grundriss der Anlage bildeten. Der rote Backsteinbau aus dem 14. Jahrhundert schmiegte sich an ein idyllisches Gewässer, das in früheren Zeiten die Bewohner vor feindlichen Angriffen schützen sollte. Mein Ziel war in einem der beiden Türme, die am gegenüberliegenden Ende des Burghofs lagen. In der oberen Etage befand sich eine Art Saal. Dort, in einer Nische, war eine steinerne Sitzbank mit einem wundervollen Blick auf den See eingelassen, die zum Verweilen einlud.

Etwas außer Atem ließ ich mich nieder und baute mein Equipment auf. Das eiskalte Getränk aus der mitgebrachten Thermosflasche erweckte meine Lebensgeister und ich war voller Tatendrang. Mein Plan ging auf. Die Sätze bildeten sich in der mittelalterlichen Kulisse fast von alleine. So merkte ich kaum, wie der rote Feuerball langsam hinter den Baumwipfeln des nahegelegenen Waldes verschwand.

Jeans Augenlider flimmerten. Auf seiner wächsernen, kalkweißen Haut hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet. Er fasste noch einmal nach der Hand von Mathijs, der die ganze Nacht am Bett des Ritters gewacht hatte. Mit einem Seufzen schloss er für immer die Augen. Mathijs wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Jean, ich schwöre dir, dass ich deine Mission vollenden werde!“

„So, speichern und Schluss für heute.“ Erschöpft klappte ich den Laptop zu und lehnte mich an den mittlerweile kühlen Stein der Burgmauer.

Als ich die Augen wieder öffnete, erschrak ich. Ich hatte doch nur für einen Augenblick die Lider geschlossen. Doch nun war es stockdunkel. Hektisch packte ich meine Siebensachen im schummrigen Licht des Vollmonds, der in dieser Nacht glücklicherweise an einem unbedeckten Himmel stand. Ein kalter Schauer überkam mich und obwohl es den ganzen Tag über schwülwarm war, stellten sich die Haare an meinem Arm auf. Mir wurde kalt. Und just in diesem Moment bildete sich im Raum eine merkwürdige Dunstwolke. Ich war einfach übermüdet und rieb mir die Augen. Doch der Nebel, den ich zunächst als optische Täuschung einordnete, verschwand nicht. Vielmehr schälte sich eine Gestalt aus dem Zwielicht.

Verdattert begann ich mit meinen rudimentären Niederländischkünsten die Person anzusprechen, die ich in diesem Augenblick für einen Nachtwächter hielt. „Goeden avond, mijnheer.“ Die Gestalt antwortete nicht. „Es tut mir leid. Ich glaube ich bin eingeschlafen.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln zuckte ich mit den Schultern. Immer noch keine Antwort. Stattdessen kam der Mann auf mich zu und ich konnte ihn genauer erkennen. Ein Wappenrock, der mit einem Schwertgurt über Kettenzeug zusammengehalten wurde. Die Beine steckten in Lederstiefeln. Rotes, schulterlanges Haar umrahmte ein markantes Gesicht. Der ebenfalls rote Bart war gepflegt und kurz gestutzt. Auf eine merkwürdige Art kam der Eindringling mir bekannt vor. Er kam noch näher. „Ah, ich wusste gar nicht, dass hier auch Reanactment-Veranstaltungen stattfinden.“ Der Ritter zog schweigend das Schwert aus der Scheide und setzte mir die Spitze an die Kehle. „Wow, wow. Ich bin doch schon auf dem Heimweg. Das ist ein Missverständnis.“ Ich hob abwehrend die Hände.

„Du Wicht hast mich umgebracht!“

„Bitte, was habe ich?“

„Tu nicht so unschuldig, du Schmierfink“, zischte der verkleidete Spinner.

Ich machte einen Schritt zurück. „Also, hör mal. Ich weiß nicht, was das hier werden soll. Ich nehme jetzt meinen Rucksack und verschwinde von hier. Schönen Abend noch und nichts für ungut.“

„Einen Teufel tust du, bevor du nicht diese lächerliche Wendung umgeschrieben hast.“

„Nochmal. Wer sind Sie. Und was soll ich überhaupt umschreiben?“

„Du weißt genau, wer ich bin. Jean d’Oetingen. Der Hauptleidtragende deines literarischen Machwerks und du bist mein Mörder!“

So langsam ahnte ich, woher der Wind wehte. „Moment mal, hast du meine Datei gelesen, als ich geschlafen habe. Das geht wohl ein bisschen weit. Was erlaubst du dir eigentlich? So, das war jetzt ein netter Scherz, aber nun reicht es auch.“ Der Mann verstärkte nochmal den Druck der Klinge und ich hatte das Gefühl, dass mir ein Bluttropfen die Kehle hinunter lief.

„Du machst jetzt Deinen Zauberkasten an und änderst das letzte Kapitel, du Wurm.“

„Das ist meine Geschichte und ich bestimme, welche Richtung sie nimmt. Und Jeans Geschichte ist erzählt. Ab jetzt ist Mathijs der Protagonist und bringt die Sache zum Ende.“

„Der Sohn eines Fischers organisiert den flämischen Widerstand und führt ihn zum Sieg über Frankreich. Und ich als Held der Geschichte trete ab, bevor ich die Lorbeeren ernte? Für wen hältst du dich eigentlich? George R. R. Martin?“

„Hör mal zu. Ich weiß nicht, wer du bist und was du von mir willst. Aber ich gehe jetzt. Und wenn du ganz viel Glück hast, hole ich nicht die Polizei, du Spinner.“ Ich redete mich in Rage und schob mit der rechten Handfläche ganz souverän die Klinge zur Seite.

„Nirgendwo gehst du hin. Du lässt meine Mutter sterben. Mein Vater ist ein Tyrann. Schon als Kind bin ich auf der Flucht vor ihm. Ich werde endlich zum Ritter, aber erst nach vielen Entbehrungen. Dann nimmst du mir auch noch meine Liebe und lässt mich einfach verenden? Bist du von Sinnen?“

Plötzlich war mir wieder eiskalt. Woher kannte er die ganzen Details? Konnte es sein, dass er doch…? Nein, das war unmöglich. Schnell schob ich den Gedanken wieder beiseite. „Das ist doch alles ein Scherz? Oder? Hat Nathi da ihre Finger im Spiel? Nathalie! Du kannst aus deinem Versteck kommen. Seeehr witzig! Aber jetzt ist genug.“ Unsicher sah ich mich um, aber nichts regte sich. Nur der unheimliche Ritter fixierte mich mit seinem durchdringenden Blick.

„Dir hilft hier keiner. Entweder du änderst meine Geschichte, oder …“

„Oder was? Willst du mich umbringen? Dann beendet niemand die Story und sie bleibt auf ewig unerzählt. Ich habe schon meine Gründe, warum ich dich nicht mehr brauche. Schließlich ging die Revolte ja nicht vom Adel, sondern den einfachen Leuten aus. Und da kommt der Fischerjunge Mathijs ins Spiel. Du bist der tragische Held. Deine Geschichte ist zu Ende. Ab hier übernimmt Mathijs. Aber immerhin hat sich dein Wunsch erfüllt und du bist Ritter geworden.“

„Gott sei gepriesen, dass du mich nicht noch zum Tuchhändler gemacht hast! Weißt du, wieviel Pferdescheiße ich dafür als Kind bei den Templern wegschaufeln musste? Tragischer Held! Das ich nicht lache! Das hast du dir ja schön ausgedacht. Ich erlebe Verlust und Niederlagen und den Ruhm stecken sich andere ein. Was wird aus dem Konflikt mit meinem Vater? Was geschieht mit meiner Schwester? So viele lose Enden.“

„Es geht in dem Roman doch nicht um Ruhm. Im Gegenteil. Rittertum und Krieg haben dich doch dahin gebracht und die losen Enden kann ebenso Mathijs zusammenfügen.“

„Den ich genauso gut unter meine Fittiche nehmen kann. Warum keine zwei Hauptfiguren? Den Edelmann und den Fischer?“

„Ach, Jean!“ Hatte ich ihn gerade bei seinem Namen genannt? „Ich weiß nicht.“

„Denk doch mal an einen zweiten Teil – ich könnte ehemalige Templerbrüder vor der Verfolgung retten. Oder Leila im Heiligen Land suchen.“

„Vielleicht denke ich darüber nach.“

„Versprich es“, flehte mich Jean förmlich an.

„Ich denke drüber nach.“

Im fahlen Mondlicht schien es so, als ob sich die Gestalt wieder auflösen würde, bis nur noch eine Nebelschwade zu sehen war, die sich langsam dematerialisierte.

Ich ließ mich erschöpft auf die Bank in der Nische fallen. Hatte ich mir das jetzt eingebildet? Ich rieb meine Augen und blickte auf die silberne Scheibe des Mondes, die sich im Wasser spiegelte. Irgendetwas in mir drängte mich noch einmal den Laptop einzuschalten. Als ich die letzten Zeilen meiner Word-Datei las, erschrak ich.

Jeans Augenlider flimmerten, als er sie langsam öffnete. Er lächelte Mathijs an und flüsterte mit schwacher Stimme: „Ich glaube, das Fieber ist überstanden, mein Freund. Lass uns ab jetzt zusammen den Weg gehen. Lass uns diese letzte Schlacht gemeinsam schlagen.“

Erst konnte ich es nicht fassen, doch dann glaubte ich eine Stimme zu hören, die mir zuflüsterte „Versprich es!“

Version 2 – 8.610 Zeichen