Von Andreas Roß

Schon beim Eintreten spürte er, dieser Tatort hatte etwas sehr Eigenartiges an sich. Er war ihm unangenehm. Normalerweise vertraute er seinem Bauchgefühl, auch wenn es noch so nebulös war. Er nahm sich die Zeit, spürte in sich hinein und achtete auf jede Kleinigkeit. Heute allerdings hatte er keine Zeit. Er wollte schnell vorankommen, zuhause hatte er ein familiäres Problem zu klären, was ihn sehr beschäftigte.

„Hey Doc. Na, wie sieht´s aus?“, grüßte Kriminalhauptkommissar Lothar Ludwig Dobermann. Er hatte die Küche betreten und das Interieur kurz gescannt.

Der Gerichtsmediziner Dr. Muffinski, bekleidet mit einem weißen Ganzkörper-Schutzanzug, kniete am Boden und beäugte die männliche Leiche, die in einer riesigen Blutlache lag und mit leblosen Augen die Decke anstarrte. Der Mediziner, dessen Stirn mit Schweißtropfen übersät war drehte langsam den Kopf und blickte auf. Ein Lächeln kroch über seine Lippen als er sagte: „Na Dobermann, haste wieder mal deine alte speckige Lederjacke aus dem Schrank gekramt? Spät bist Du heute dran, aber egal. Ich habe bald Feierabend und du musst noch eins und eins zusammenzählen, um den Fall zu lösen.“

„Prima, wenn es so einfach ist, dann sage mir flugs, was eins und was eins ist.“

Muffinski lachte glucksend, wie nur er es konnte. Dabei strahlten seine Augen voller Lebensfreude. „Ach Kollege, mit dir arbeite ich am liebsten.“

Der Kommissar stand nun direkt vor dem Gerichtsmediziner, bemüht, nicht in die ausufernde Blutlache zu treten.

Währenddessen erklärte Dr. Muffinski: „Unsere Leiche trug den Namen Franz Josef Todenhöfer …“ Er machte eine kurze Pause und studierte amüsiert den Gesichtsausdruck des Kommissars. „Lach nicht, ich kann nichts für den Namen des Opfers.“

Als er das Wort Opfer ausgesprochen hatte, rumpelte es im Schlafzimmer.

„Herr Todenhöfer ist verblutet. Ihm wurde die zerschlagene Bierflasche hier…“ Muffinski zeigte auf den Hals des Opfers. „… brutal in die Halsschlagader gerammt und zwar mit einer immensen Wucht. Dazu bedarf es einem ausgeprägten Tötungswillen. Es war wohl eine Menge Wut im Spiel. Das Opfer ist innerhalb von kurzer Zeit verblutet.“

„Und,was gibt es noch?“, wollte der Kommissar wissen.

„Im Schlafzimmer liegt Frau Todenhöfer. Sie hat sich anscheinend mit Schlaftabletten vollgepumpt und die Pulsader am linken Handgelenk aufgeschnitten. Dabei hat sie sich sogar die Mühe gemacht, eine groß Waschschüssel zu holen und unter ihre baumelnde Hand zu stellen, um das Blut aufzufangen. Ordentlich bis ins Grab, wie die Frauen halt so sind.“ Der Mediziner grinste breit, bevor er weitersprach: „Nach meiner Einschätzung hat Frau Todenhöfer erst ihren Mann getötet und anschließend sich selbst gerichtet. Ein typisches Beziehungsdrama, wie so oft halt.“

Kommissar Dobermann hmmte nachdenklich.

„Bevor du es von anderer Seite hörst. Ich kannte Herrn Todenhöfer flüchtig, habe ihn ein paar Mal zum Bier getroffen. Er war ein lebenslustiger Typ. Seine Frau allerdings litt unter einer Depression, sagt man. Es passt alles zusammen. Ich denke, der Fall ist gelöst. Ein kurzer Bericht und er kann zu den Akten. Die Kollegen von der Spurensicherung können getrost zuhause bleiben.“

Der Kommissar hmmte erneut.

Heidrun Todenhöfer erhob sich langsam, wie an Fäden gezogen. Leise ging sie durch den langen Flur bis hin zur Küche. Zuerst verfolgte sie interessiert das Geschehen, anschließend hob sie ihre Hand, um Aufsehen zu erregen und sagte, an den Kommissar gerichtet: „Schauen Sie sich doch die Hausschuhe an, wie sie da rumliegen.“

Dobermann blickte sich in der Küche um.

„Mein Mann, der alte Drecksack, war so besoffen, dass er über seinen eigenen Füßen gestolpert ist. Er hielt die leere Bierflasche in seiner rechten Hand, ist nach vorne gefallen, hat den Hals der Bierflasche am Küchentisch zerschlagen und ist dann so unglücklich gefallen, dass er sich die zerdepperte Glasflasche in die Halsschlagader gerammt hat. Schauen Sie nur, die Kratzer am Holztisch. Im Todeskampf hat er noch versucht, sich aufzurichten, ist aber umgekippt und blieb auf dem Rücken liegen.“

„Das klingt schlüssig“, sagte Dobermann, „eine eindeutige Sache. Familiendrama, Frau erschlägt Mann und richtet sich dann selber.“

„Haben sie nicht gehört, was ich gesagt habe?“, schrie Frau Todenhöfer und tobte wild vor den Augen des Kommissars herum, „es war ganz und gar anders. Gehen Sie ins Wohnzimmer. Dort finden Sie den Lottozettel. Gestern Abend habe ich gewonnen, sechs Richtige und auch noch die Superzahl. Franz Josef und ich haben gefeiert. Er trank Bier, ich trank Sekt. Ich habe ihm vertraut. Er hat mir was in den Sekt geschüttet. Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen. Er hat mich ins Bett gebracht und meinen Selbstmord inszeniert. Er wollte das Geld, für sich und seine Geliebte. Von der wusste ich schon seit ein paar Wochen und war deswegen ein wenig depressiv. Herr Kommissar, so war das und nicht anders. Glauben Sie mir.“

„Na, dann“, sagte Kommissar Dobermann, „ich gehe kurz ins Schlafzimmer und schau mich dort um, aber ich denke, der Fall ist gelöst. Halt die Ohren steif, altes Haus. Sehen wir uns am Donnerstag beim Stammtisch?“

Der Gerichtsmediziner hatte sich zwischenzeitlich erhoben. „Am Donnerstag wird es wohl klappen, dann können wir über die alten Zeiten schwätzen“, sagte er gutgelaunt.

Kommissar Dobermann drehte sich um und wollte die Küche verlassen. Heidrun Todenhöfer stellte sich ihm mit fuchtelnden Armen in den Weg und schrie ihn erneut an.

Der Kommissar lief einfach durch sie hindurch, ging den Flur entlang, betrat kurz später das Schlafzimmer und betrachtete die auf dem Bett liegende Frau nur kurz. Es war eindeutig. Dobermann drehte sich um und wollte gehen, da schreckte er auf. Das kann doch nicht sein, dachte er. War es wirklich so, wie er es kurz im Augenwinkel erkannt hatte? Er stoppte, betrat erneut das Schlafzimmer und schaute sich die Leiche genauer an. Hatte sie ihm eben zugewunken? Nein, das konnte nicht sein. Er musste sich getäuscht haben.

In ihrer rechten Hand ruhte das Kartoffelschälmesser. Die scharfe Spitze war ein gutes Werkzeug. Die Klinge ragte nach oben. Das passte nicht. So hätte sich Frau Todenhöfer nicht selbst die Schlagader am Handgelenk öffnen können.

Patschend schlug sich der Kommissar die flache Hand vor die Stirn und rief durch den Flur: „Doc wir sollten doch die Spurensicherung antanzen lassen. Irgendetwas stimmt hier nicht.“

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