Von Marco A. Rauch

Es war einmal vor langer Zeit in einer weit, weit entfernten Galaxis. Genauer gesagt irgendwo zwischen mehreren Galaxien. Inmitten des unendlich weiten Weltalls thronte ein mächtiger Thron aus uraltem Gestein. Er war ein so riesiges Gebilde, dass die weit verstreuten Sternenhaufen daneben klein wie Murmeln wirkten. Und auf diesem für menschliche Augen nicht zu fassenden Gigantoskop schöpferischer Macht hockte Archityria, die Urmutter aller Zeiten und Dinge. Eine mächtige, uralte Schildkröte. Auf ihrer Nase saß eine riesige und gleichzeitig grazil geformte Nickelbrille. Sie trug in sich alles Wissen und jede Weisheit und vermochte jeden einzelnen Lebensstrang im Universum zu sehen, zu knüpfen oder zu trennen. Zivilisationen um Zivilisationen hatte sie kommen und gehen sehen, immer bemüht, dem großen Ganzen dienlich zu sein. Ihrer eigenen Schöpfung, dem Leben an sich. Ihre Augen waren noch immer scharf und ihr Geist hellwach. Doch in letzter Zeit überkam sie immer öfter eine gewisse Tristesse, deswegen zappte sie vermehrt durch die Stränge der Völker, beobachte den Fortschritt mancher und verhalf dem einen oder anderen zu neuen Ideen. Beim Zappen fiel ihr ein Strang besonders ins Auge, daher zoomte sie hinein und beobachtete einen Künstler auf dem Planeten Erde, der gerade an einem Text arbeitete. Neugierig beobachtete sie ihn.

 

Er heißt Marco, sitzt an seinem Laptop und brütet gerade über dem Monatsthema. »Hallo, sagte die Schildkröte in meinem Wohnzimmer.« Was für ein Blödsinn. Sein kreativer Fluss scheint zu kränkeln. Wo ist nur die Muse, wenn man sie braucht? Er fühlt sich müde, fährt sich durchs Haar. Welches Auto nennt man Schildkröte? Keine Ergebnisse bei der Suche. Wie wäre es mit einem Plüschtier für Kinder? Die Dinger können doch mittlerweile sprechen. Langweilig, sagt sein kreativer Geist. Was ist mit der Geschichte, die ich schon geschrieben habe? Luna, die sprechende Schildkröte. Langweilig, sagt sein kreativer Geist. Kein Spannungsbogen, zu wenige Dialoge, zu wenig Platz für eine klassische Abenteuerreise. 10000 Zeichen sind einfach zu wenig. Na toll.

Und nun? Eine Fantasygeschichte? Langweilig, alles schon dagewesen. Ein Horror? Nicht sein Genre. Wie wäre es mit Science-Fiktion? Gähn. Ist doch alles billig, moderne Technik wird uns irgendwann mit Tieren sprechen lassen. Was ist mit ChatGPT? Das ist nur was für Unkreative.

Na gut, dann eben assoziativ. Er zieht eine Augenbraue nach oben. Interessant. Assoziativ. Einfach die Schleusen öffnen. Wie ein Durchfall, der dem Körper erlaubt, sich zu reinigen. Oder wäre es bildlich eher ein Erbrechen? Was fällt ihm dazu ein?

Es war einmal eine Kröte namens Heidi, die trug anstelle von Zöpfen einen Schild. Ihr Wams war voll, ihr Busen toll … ähm, toll … Hm, was reimt sich auf toll? Groll? Zoll? Gab es erst, Stichwort Bulldogge. Busen, Zoll und Bulldogge. Das wäre doch ein Vorschlag für 2024.

Marco schweift ab, lässt seine Gedanken fließen. Tolle Bulldogge auf Ebay, mit Schild und Busen. Garantiert authentisch. Was wohl die Tierschützer sagen würden?

Vielleicht würden sie fragen, welches Kraut da geraucht wurde. Und ob das nicht auch unnötige Umweltverschmutzung ist. Verbrennen ist immer schlecht. Aber Dampfen ist ok. Wird ja nichts verbrannt.

Überhaupt, was ist das nur mit diesem Thema? Alle möglichen Dinge schwirren durchs Marcos Kopf, Erinnerungen an Filme, Bücher und Geschichten. Oh Käpten, mein Käpten. Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. (Ein Depressiver würde vielleicht sagen: Meint er eine alte Schachtel, mit Rollator und so? Ein gebrauchtes Leben, würden die Österreicher sagen. Vielleicht auch nur ein gebrauchter Tag.) Gedanken kommen und gehen, aber wenn es um sprechende Schildkröten geht, fällt ihm nichts ein? Er denkt an Ragnarök, den Bifröst. Regenbogenbrücke, sie waren der Zeit weit voraus. Er erinnert sich an Bud Spencer und Luke Skywalker. Er denkt an Lefantimia und ihr blondes Haar. So viele Geschichten, Figuren und Ereignisse. Aber keine sprechende Schildkröte. Wie es den Hunderl’n wohl geht, fragt er sich, lacht über seinen Gedankenquark.

Gedankenquark, was ein Begriff. Quark ist ein gereiftes Produkt, braucht Zeit, sich zu entwickeln. Dieser Gedankenquark hingegen ist roh, unverarbeitet, wie es Ernährungsspezialisten empfehlen. Authentisches Rohmaterial, geeignet nur zum Gähnen. Dabei soll es so gesund sein. Aber vielleicht ist genau das der Weg, denkt er. Kreative Knospen sprießen lassen, durch assoziative Diarrhö. Wildwuchs statt Planpflanz, Chaos statt Ordnung. Erst durch Überflutung geschieht Reinigung. Oder?

Eine sprechende Schildkröte, denkt er. Eine verdammte, sprechende Schildkröte. Kein Hamster, kein Fahrrad, nein, eine verfluchte Schildkröte. Das hatten wir doch alles schon. Schreibe eine Geschichte aus einer ungewöhnlichen Perspektive, Januar 2022. Alle möglichen und unmöglichen Dinge sind da zum Leben erwacht, konnten denken, sprechen und fühlen.

Schildkröte, Busen, Schildmaid. Eine Schildmaidkröte! Das ist es. Durchbruch! Heuratius.

Oder so.

Es war einmal eine Schildmaid namens Ivanda. Der Einfachheit halber positionieren wir sie im Zeitalter der Wikinger, so ungefähr bei Ivar Hodbrok. Blondes Haar hing zu einem Zopf geflochten ihren Rücken hinab. Auffällig prall waren ihre unwiderstehlichen Arme, alles Muskeln, natürlich. Ihre Haut glich in ihrer Feinheit dem Gesicht von Odins Gattin Frigg. Ihr betörendes, nicht von dieser Welt zu sein scheinendes Antlitz, ließ alle Männer in ihrer Umgebung erblinden. Also hatte sie ein Problem, als Ivar mit seinen Mannen angriff. Es war keiner da, ihr zu folgen. Gemeinsam mit ihrem blinden Busenfreund Ole van de Haasgart schmiedete sie einen Plan. Am nächsten Tag schwang sie sich auf ihr Streitross und ritt den Angreifern mutig entgegen. Die List empfahl ihr, aus der im Gepäck befindlichen Klopapierrolle eine weiße Fahne zu basteln. Beflissentlich ließ sie einen ziehen und schwang das Symbol des Friedens. Als die Männer den verdauten Braten rochen, fielen sie scharenweise zu Boden, noch bevor sie erblinden konnten. Das war der Schildmaid Untergang, trotz tollem Plan. Hoki, Ivars Schiffsbauer, entließ im Zorn einen dicken Brummer, der feucht und mittig in die Hose ging. Im Zuge dieser Erleichterung und im gleichen Augenblick beschämt von Omas Kohlsuppenkaskade stieß er einen Fluch aus. Die Schildmaid solle diese Kröte selbst schlucken. In der Überlieferung mag ein Übersetzungsfehler gewesen sein, jedenfalls verwandelte sich Ivanda augenblicklich in eine Schildmaidkröte. Erschlagen von ihrem eigenen Schild lag sie da, der lange, geflochtene Zopf neben ihrem Panzer. Als Ivar näherkam und den Schild anhob, hauchte sie ein gekünstelt freundliches „Hallo“ hervor, dann verschied sie.

Fortan galt dieser Ort als Ivars Wohnzimmer und ward viel besungen. Der Ort, an dem er die sagenumwobene, übermenschliche, monstergroße, feuerspeiende und prall dekolletierte Schildmaidkröte erlegt hatte. Die letzte ihrer Art. In einer epischen Schlacht. Sowieso und überhaupt.

Legenden werden selbst erschaffen.

Alles wird gut.

 

Erleichtert lehnt sich Marco zurück. Natürlich war dieser Einfall nichts weiter als ein gedanklicher Huster im unendlichen Universum, ein zaghaftes Divertimento asklepischer Katharsis. Aber beginnt Heilung nicht mit »Hi«?

Und da soll noch jemand sagen, Durchfall sei nichts Gutes.

 

 

Archityria nickt schmunzelnd. Ein Huster, wie wahr. Gerne geschehen. Sie würde den Jungen beobachten, er hat Potenzial. Schildmaidkröte. Sie lacht laut auf und die nahen Galaxien beben. »Hallo«, sagt sie schließlich mit der tiefen, kratzigen Stimme einer uralten Lady und zwinkert einmal ins weite Universum. »Willkommen in meinem Wohnzimmer. Schreibaufgabe erfüllt!«

 

 

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