Von Marianne Apfelstedt

Endlich ist es wieder hell. Wo bin ich jetzt hingeraten? Oh Mann, ich muss mich immer noch auf vier Beinen bewegen, das ist so mühselig. Ich komme kaum vorwärts, bin so langsam wie eine Schnecke. Nicht verwunderlich bei so kurzen Gliedmaßen. Nach der letzten Wiedergeburt erwachte ich ebenfalls mit vier Beinen, ich meine natürlich Pfoten. Ein Fell habe ich diesmal nicht und hoffentlich auch keine Flöhe. Sie haben ja keine Ahnung, wie lästig diese Biester sind. Glücklicherweise konnte ich mich mit den Pfoten überall kratzen. Das wird mit diesen Dingern schwierig. Boah, das ist ja cool. Ich kann meinen Kopf einziehen. Jetzt habe ich es, alle Gliedmaßen passen in meinen Panzer, ich bin eine Schildkröte. „Hallo gibt es hier einen Imbiss für eine hungrige Schildkröte?“ Keiner antwortet mir. „Hallo!! Ist hier wer?“ Meine Augen lassen sich famos bewegen, ich sehe meine Hinterbeine. Der glatte Untergrund macht mir das Vorwärtskommen echt schwer. „Hilfe! Jetzt wackelt der Boden, oder wackle ich?“ Es sieht so aus, als kämen da Menschenbeine in Jeans auf mich zu. Ein Paar in Sneakers und das andere Paar Füße steckt in Filzpantoffeln. Igitt.

 

„Warum ich? Ich mag keine Haustiere.“ „Bitte, Nele. Es ist doch nur für sechs Monate. Nach dem Auslandssemester komme ich zurück und hole Nessie wieder bei dir ab. Sie ist echt pflegeleicht und Vegetarier wie du. Ich bin sicher, ihr werdet euch prima verstehen.“ „Ich kenne mich doch mit Schildkröten gar nicht aus.“ „Liebes Schwesterchen, darum habe ich dir ein Buch über Reptilien mitgebracht. Wenn du arbeiten gehst, tust du sie in ihr Gehege und wenn du im Garten bist, kannst du sie draußen laufen lassen. Dein Grundstück ist ausbruchssicher, das habe ich schon überprüft. Dein zu Hause ist perfekt geeignet.“ Er drückte ihr das Buch in die Hände. „Landschildkröten fit und gesund. Ist das dein Ernst, Peter?“ „Klar, hier steht alles Wichtige drin.“ Er stellte das Terrarium im Wohnzimmer auf. „Die Schachtel mit dem Heu habe ich in der Garage abgestellt. Ich fülle ihre Wasserschüssel auf. Heu und Wasser muss immer im Gehege sein. Was sie fressen darf, steht alles im Buch.“ Peter drückte Nele an sich und küsste sie auf den Scheitel, dann bückte er sich, um Nessie vorsichtig hochzunehmen. „Das ist meine Schwester Nele. Die nächsten Monate passt sie auf dich auf.“ Er strich der Schildkröte über den Kopf und setzte sie behutsam in Neles Hände.
Du kannst mich gerne weiter streicheln. Weißt du, als Frau war ich ein scharfer Feger. „Tschüss, ich muss dann mal los. Wenn was ist, schreib mir auf WhatsApp.“ Nele sah sich das Tier genauer an.
Und weg ist der Hallodri. He du, ich habe Hunger.
„Du bist hübsch. Ich habe noch nie eine Schildkröte aus der Nähe gesehen.“ Mit dem Zeigefinger fuhr sie das Muster auf dem Panzer nach. Danke, du scheinst nett zu sein. Ich habe immer noch Hunger. Zu blöd, dass keine Stimme zu diesem Leben gehört. Ich versuche es mit Hypnose. Nessie reckte den Hals und starrte in Neles Gesicht. „Ich finde, du siehst jetzt nicht mehr freundlich aus. Was ist los?“
H U N G E R! Bei jedem Buchstaben öffnete Nessie kurz ihr Maul, doch kein Laut war zu hören.
„Reißt du dein Maul so weit auf, weil du Hunger hast?“ Nele trug Nessie in das Gehege und setzte sie neben Heu und Wassernapf ab.
Ein Gourmet-Menü ist das nicht, aber es riecht essbar. Nessie rupfte sich Heu ab und kaute darauf herum. Mmmf, gar nicht so schlecht. Nele schloss den Deckel und machte es sich mit dem Buch auf dem Sofa gemütlich. Sie sah nach ihrem Gast, bevor sie zu Bett ging. Die Schildkröte ruhte mitten im Terrarium.

 

Am nächsten Morgen erwachte Nele mit laufender Nase und kratzendem Hals. Ihr Kopf fühlte sich an, wie mit Watte gefüllt. Sie schaufelte sich am Waschbecken kaltes Wasser ins Gesicht, um wach zu werden. Fröstelnd zog sie sich einen dicken Pulli über den Schlafanzug. So kann ich nicht zur Arbeit. Ich mache mir erst mal einen Lindenblütentee. „Hey, Siri. Nachricht an Felix: Felix, ich muss mich für heute krankmelden, brüte wohl eine Grippe aus. Kannst du mich bitte entschuldigen?“ Prompt kam eine Antwort zurück. Ok, mach ich. Viele Grüße Felix.
„Was mach ich denn mit dir, Nessie? Du hast kein Heu mehr.“ Nele sah im Gemüsefach nach. Karotten und Brokkoli durften Schildkröten nicht fressen. Etwas Rucola war noch da. Sie platzierte eine Handvoll neben der Wasserschüssel.
Das riecht lecker. Langsam verschwand eines der gezackten Blätter in Nessies Schnabel. Nele trank den lauwarmen Tee im Stehen und legte sich auf das Sofa. Stunden später erwachte sie durch das Klingeln ihres Handys. Verschlafen meldete sie sich. „Ja.“ „Hallo Nele. Hier ist Felix. Wie gehts?“ „Ich habe einige Stunden geschlafen“, krächzte Nele mit belegter Stimme. „Es haben sich noch zwei Kollegen krankgemeldet. Hoffentlich geht es dir bald besser.“ „Das hoffe ich auch. Gehst du auf dem Heimweg einkaufen? Ich habe einen Gast und der steht unheimlich auf Kräuter, die ich leider nicht zu Hause habe.“ „Ist Peter da? Ich wusste gar nicht, dass er sich vegetarisch ernährt.“ „Tut er auch nicht. Er geht für ein halbes Jahr nach Kanada und hat mir seine Schildkröte dagelassen. Ich hatte nie ein Haustier und muss mich jetzt um Nessie kümmern.“ „Wir hatten früher eine griechische Landschildkröte, die hieß Theo. Hast du Löwenzahn im Garten?“ „Ich glaube nicht. Mein Bruder hat mir ein Buch dagelassen, da stehen Kräuter drin, die gut für Schildkröten sind. Ich wollte heute mal draußen nachsehen, was hier so wächst.“ „Ich bring dir Grünzeug mit. Was unserem Theo geschmeckt hat, ist auch für Nessie geeignet. Ich komme dann später bei dir vorbei.“ Nele schlurfte in die Küche und öffnete das Tiergehege, sodass Nessie herauskonnte.
Wird aber auch Zeit, ich bin schon 50 Runden gelaufen, bald ist der Boden vom Gehege durch. Nele goss sich eine weitere Tasse Tee auf und kuschelte sich auf das Sofa. Die Türklingel weckte sie aus dem Schlaf.
„Hallo. So schick habe ich dich noch nie gesehen.“ Felix grinste sie frech an. Erst jetzt wurde Nele bewusst, dass sie die Pyjamahose mit den Schäfchen und ihren Kuschelpulli trug. Sie zupfte an ihrem Pulli in der Hoffnung, ihn etwas in die Länge zu ziehen und ging Felix voraus in das Wohnzimmer.
„Wo ist denn die Schildkröte?“
„Die müsste im Gehege sein, oder nein, das habe ich ja offengelassen, damit sie raus kann.“ Beide suchten nach ihr. Sie fanden sie im Wohnzimmer. Felix hatte ein Büschel Löwenzahn in der Hand und setzte sich vor das Tier.
„Hallo Nessie, schau mal, was ich dir mitgebracht habe. Frisch gepflückt.“
Ah, ein Mann, der weiß, was Frauen lieben, zumindest wenn sie einen Panzer tragen. Zutraulich näherte sie sich der Hand mit den Blättern und ließ eines kauend im Maul verschwinden. Er stellte die Papiertüte mit dem Löwenzahn auf ein Tischchen.

Hey, da komme ich nicht dran, so groß bin ich nicht.
„Für dich habe ich Frühlingsrollen mitgebracht. Hast du Hunger?“
„Ja. Ich habe mich schon gefragt, was hier so duftet. Komm mit in die Küche.“ Nessie folgte den Menschenbeinen.
Gibt es noch mal so leckeres Grünzeug? Nele und Felix saßen am Küchentresen und tunkten abwechselnd ihre Frühlingsrollen in die gemeinsame Schüssel mit süß-saurer Soße. Felix brachte Nele mit Geschichten über Lausbubenstreiche von seinem Bruder und sich zum Lachen.
Jetzt turteln sie. Ich kann sie ja verstehen, seine Stimme klingt sexy, aber ich habe Hunger.
„Du hast da Soße.“ Felix fuhr mit seinem Finger sachte über Neles Kinn. Nele war vorher gar nicht aufgefallen, dass er grüne Augen hatte. Grüne Augen mit Honigsprenkeln. Er wischte seinen Finger an der Serviette ab und blickte ihr wieder in die Augen. Auf seinen Blick reagierte ihr Körper mit verräterischer Hitze, die ihre Wangen färbte. Verlegen sah sie zu Boden.
„Nessie, dich habe ich ganz vergessen. Ich muss Heu aus der Garage holen. Du hast schon alles aufgefressen.“ Als sie aufstand, endete ein Kratzen in ihrem Hals in bellendem Husten.
„Ich glaube, du legst dich besser hin. Ich habe in deinem Vorgarten Spitzwegerich entdeckt, den darf sie fressen. Ich pflücke etwas und bringe gleich das Heu aus der Garage mit herein.“ Nele legte sich dankbar wieder auf ihr Sofa.

 

Mal sehen, wo der hinwill. So schnell sie ihre Beine trugen, kroch Nessie den Sneakers hinterher.
Oh, hier riecht es lecker. Sie rupfte Gras ab und schlängelte weiter. Irgendetwas Verlockendes wuchs hier in der Nähe. Unter einem Busch entdeckte sie ovale Blätter. Hungrig, wie sie war, biss sie hinein. Schmeckt nicht gut und schäumt beim Kauen. Mühsam schluckte sie den Pflanzenbrei hinunter.
Bäh, ekelig. Mal sehen, was hier sonst noch wächst.

„Hallo Kleine. Du machst wohl einen Ausflug. Ich habe dich schon gesucht.“ Felix hob Nessie hoch und trug sie wieder zurück. Er setzte sie behutsam in das Terrarium, wo sie sich gleich über die Wegerichblätter hermachte.
Mmh, das schmeckt mir. Magst du mich adoptieren?

Stunden später wurde ihr erst speiübel, dann konnte sie nicht mehr auf ihren Beinen stehen. Als sie alle Gliedmaßen im Panzer verstaut hatte, wurden ihre Augen trüb.
Ach nö, ich habe mich gerade an dieses Leben gewöhnt und schon wieder geht das Licht aus.

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