Von Karl Kieser

„Halloo!“, sagte die Schildkröte in meinem Wohnzimmer. Es klang überrascht und irgendwie auch bewundernd.
Ich dagegen war ziemlich von der Rolle, denn wir haben überhaupt keine Schildkröte. Außerdem achte ich als Hausfrau auf ein Minimum an Ordnung und das hier war entschieden zu viel und zu groß, denn das Tier füllte den Platz zwischen der Eckcouch und den zwei wuchtigen Sesseln fast vollständig aus. Wo war der niedrige Tisch geblieben, der bei uns immer mit einem Wust von Zeitschiften über Amphibien bedeckt ist?

„Hier stimmt etwas nicht“, sagte ich laut zu mir selbst, „das kann gar nicht sein.“

Das Tier reckte den Hals, hob den Schädel und grinste mich an.
Haben Sie schon mal eine Schildkröte grinsen gesehen? Das hat die Situation sofort entspannt. Doch dann stieß sie ein keckerndes Lachen aus und bemerkte wie nebenbei: „Das wird schon wieder.“

Dieser Satz, noch mehr der Ausdruck, mit dem sie ihn sagte, hat mich gleich wieder aufgeregt. Diesen gönnerhaften Ton kenne ich zur Genüge von unserem Sohn. Wo steckte der überhaupt? Er wäre doch der Richtige, dieses Gespräch zu führen.
So ein Unsinn, schalt ich mich selbst. Wer hätte jemals ein Gespräch mit einer Schildkröte geführt?

„Reiß dich zusammen!“ sagte ich leise zu mir und lauter zu dem seltsamen Gast: „Wie wäre es, wenn Sie hier verschwinden?! Ich bin auf überraschenden Besuch gar nicht eingerichtet.“
Hatte sich meine Stimme etwa schrill angehört? Dabei war ich doch so stolz auf meine coole Reaktion.

Der gewichtige Fremde stemmte sich hoch und ich hatte schon die Hoffnung, er würde meiner Forderung nachkommen und auf zwei Beinen aus meinem Wohnzimmer marschieren. Stattdessen setzte er sich in einen der Sessel und ließ den gewölbten Panzer gegen die Rücklehne sinken.
„Jetzt komm mal langsam wieder runter“, sagte er beschwichtigend. „Für mich ist die Situation schließlich auch ungewohnt. Ich weiß ja nicht einmal, wie ich hierhergekommen bin. Aber du gefällst mir, du siehst so schön weich aus. Ich liebe das.“

Was sollte das denn? Wollte der Gepanzerte etwa mit mir flirten? Ich fühlte, wie die Wärme in mein Gesicht stieg. Von meinem Mann hatte ich so etwas schon lange nicht mehr gehört. Der könnte wirklich mal wieder romantische Gefühle haben. Aber war das ein Grund, sich auf die Schmeicheleien einer Kröte einzulassen?
Schnell, eine Antwort. Aber cool musste sie sein, sonst würde ich mir nicht mehr in die Augen sehen können.
„Mir dagegen würde so ein bisschen Härte an der richtigen Stelle sehr gefallen.“

Mein Gott, was redete ich denn da? Hatte ich den Verstand verloren? Woher kam diese plötzliche Lüsternheit? Selbst wenn ich mir für mein Liebesleben ein paar Lichtpunkte wünschen würde, darüber redete man doch nicht, nicht mit einer fremden Schildkröte.

Die verwandelte sich gerade. Das spitzmaulige Greisengesicht bekam menschliche Züge, der Panzer schrumpfte immer weiter, bis ich meine Augen nicht von dem Waschbrettbauch losreißen konnte.
Da saß ein Mann mit nichts an.
Jetzt breitete er auch noch die Arme aus und gurrte verführerisch: „Wir könnten es einmal miteinander probieren.“

Einen Augenblick lang drohte mich die Lust zu überschwemmen. Aber das geht doch nicht. Nicht in meinem Wohnzimmer!
Ich musste weg hier. Schnell!
Ich wendete mich um,  trat den aufheulenden Hund und dachte noch, warum hat der eigentlich nichts gegen den Krötenmann unternommen. Der Fußboden kam mir rasend schnell entgegen, ein Stuhl geriet kurz in mein Blickfeld, worauf etwas mit meiner Stirn kollidierte.

Als ich wieder aufwachte, sah ich in das ungeduldige Gesicht meines Mannes.
„Da bist du ja endlich wieder. Was ist denn eigentlich passiert?“

Danke der Nachfrage, es geht mir beschissen, dachte ich erbittert. Der Kopf tat mir weh und der Pelz in meinem Mund war auch nicht angenehm.
Was passiert war, hätte ich selbst gerne gewusst. Ich wollte meinem Göttergatten aber nicht erzählen, dass ein nackter Mann – der vorher eine Schildkröte war – in seinem Sessel gesessen und mich zum Beischlaf eingeladen hatte. Der hätte mich doch für verrückt gehalten. Stattdessen hatte ich eine Gegenfrage:
„Ist der Couchtisch an seinem Platz?“

Mein Mann bekam schmale Augen. Vermutlich konnte er sich nicht entscheiden, ob er dem Misstrauen Vorrang geben sollte oder der Sorge um meinen Geisteszustand.

„Was hat denn der Couchtisch … Also jetzt hör mir mal gut zu!“
Er hatte sich gegen Misstrauen entschieden, hielt mich wohl für geistig immer noch angeschlagen, denn nach dieser Aufforderung folgt normalerweise eine Grundsatzerklärung.
„Dein Sohn hat dich ohnmächtig im Wohnzimmer gefunden, nachdem er den Hund hat aufheulen hören, gefolgt von einem harten Bums. Du hattest eine Platzwunde an der Stirn und hast mordsmäßig geblutet. Er hat dich nicht wieder wach gekriegt, den Notarzt gerufen und die haben dich hierher ins Krankenhaus gebracht.“

Immer wenn er ‚dein Sohn‘ sagt, ist er mit der Handlungsweise unseres Sohnes nicht einverstanden und will mir die Verantwortung dafür geben. Ich überdachte meine letzte Begegnung mit unserem Nachwuchs und schon keimte ein logischer Verdacht in mir auf.
„Wo ist Paul? Was hat er gesagt?“

„Ich habe ihn nach Hause geschickt. Er wollte partout hierbleiben, wollte mich sogar wegschicken. Soweit kommt’s noch. Aber er war verdächtig besorgt um dich. Ich bin mir sicher, er hat etwas ausgefressen. Sag schon, hat er mit deinem Sturz zu tun?“

Als ich vom Einkaufen zurückgekommen war, lehnte Paul im Flur an der Wand und quatschte mit seiner Freundin am Telefon. Das Festnetz-Telefon verteidigt bei uns immer noch seinen angestammten Platz auf dem Tischchen im Flur. War sein Handy etwa wieder einmal kaputt?
In der Küche hatte ein buntschillernder Drink gestanden, den er sich wohl zurechtgemacht hatte. Der enthielt doch hoffentlich keinen Alkohol?
Ich hatte vorsichtig probiert. Nein, kein Alkohol, aber das Zeug schmeckte gut und ich hatte mir einen kräftigen Schluck gegönnt.
Nicht lange danach war mir der Krötenmann begegnet.
Ich würde wohl ein ernstes Gespräch über Drogenexperimente mit unserem Filius führen müssen. Meinen Mann ließ ich in seiner Ungewissheit und erklärte:
„Das Chaos auf dem Couchtisch hat mich wieder aufgeregt, dabei bin ich über den Hund gestolpert.“
Um ihn von seinem Misstrauen abzulenken und seine Überlegungen garantiert in andere Bahnen zu leiten, fügte ich noch hinzu: „Du hast mich übrigens aus einem erotischen Traum geweckt. Interessante Perspektive. Könnten wir einmal ausprobieren. Aber so, dass der Couchtisch nicht im Wege ist.“

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