von Christa Blenk

 

Als meine Eltern vor 35 Jahren dieses Haus am Stadtrand gekauft haben, war ich knapp sieben Jahre alt. Es war nicht sehr groß und kam mir ziemlich alt vor. Aber in dem weitläufigen und ziemlich verwilderten Garten mit unterschiedlichen, zum Teil sehr alten, Obstbäumen, konnte man herrlich Verstecken spielen. Im Salatbeet lebte eine Schildkröte. Mein Vater, der die Mythologie liebte und mich schon im Kindergartenalter mit der Welt der Titanen und Götter konfrontierte, hat sie Prometheus getauft. Ich schloss die Schildkröte sofort in mein Herz aber ihr Name beschwerte mir schlaflose Nächte, denn natürlich kannte ich die Geschichte von Prometheus und dem Adler. Das Kaukasusgebirge, wohin Hephaistos Prometheus brachte und an einen Felsen schmiedete, erschien mir weiter weg als der Mond. Ich beschloss deshalb, meinen Liebling mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu beschützen, sollte ihn jemand dorthin verschleppen und seine Leber anknabbern wollen. Ich war fest entschlossen, Prometheus‘ Herakles zu werden und bat meinen Vater, mir vorsichtshalber Pfeil und Bogen zu kaufen. Allerdings würde ich keine 30 000 Jahre Zeit haben für so eine spektakuläre Rettungsaktion. Mein Vater hat aber darauf verzichtet und meinte, wir seien schon in der Lage, Prometheus auch ohne Waffen zu beschützen, außerdem hätte dieser ja seinen Panzer. Das hat mich dann etwas beruhigt. Meine Mutter schenkte mir zum 12. Geburtstag die Kopie einer Renaissancedarstellung des Prometheus-Mythos von Piero di Cosimo und der Gedanke, ein Produkt, ja mehr noch, ein Ebenbild, von ihm zu sein, faszinierte mich. Heimlich suchte ich nach Ähnlichkeiten zwischen uns.

 

Ich habe meine Kindheit praktisch mit Prometheus verbracht. Habe mit ihm gesprochen und ihm im Laufe der Jahre die Streitereien mit meiner besten Freundin gebeichtet, meinen ersten Liebeskummer bei ihm ausgeweint, ihm meine tiefe Trauer über den Verlust meiner Eltern mitgeteilt und ihn um Erlaubnis gefragt, Rolands Heiratsantrag anzunehmen. Ich bekam seine Zustimmung. Roland und ich sind im Haus meiner Eltern geblieben und Prometheus selbstverständlich auch.

 

Nun habe ich selber zwei Kinder, Sara und Ben. Ben interessiert sich so gut wie gar nicht für Prometheus, aber Sara liebt ihn und er liebt sie. Prometheus ist immer in ihrer Nähe zu finden und schläft auch in einer Ecke in Saras Zimmer. Ich vermute sogar, dass sie sich für ihn immer so bunt anzieht, denn Schildkröten nehmen Farben sehr gut wahr. Ihre Freundinnen kommen jedenfalls eher gedeckt und farblos daher.

 

Sara liest Prometheus Geschichten vor, die von Tieren seiner Gattung handeln. Am liebsten mag er die Äsop Erzählung von dem Hasen und der Schildkröte. Immer wenn sie beim Wort Wettrennen ankommt, geht Prometheus konzentriert und behäbig in Startposition. Prometheus scheint sie zu verstehen und nickt zustimmend und besonders heftig mit seinem runzeligen Hals, sobald der Hase ausgelaugt ins Gras fällt und das Rennen verliert. Sara sieht dann sein abgeklärtes Lächeln. Ich muss neidvoll eingestehen, dass sie ihm näher ist, als ich es jemals war.

 

Auch nach 35 Jahren bin ich immer noch überrascht, wie der behäbige und mittlerweile alte Prometheus relativ schnell mit seinen schlängelnd-kriechenden Bewegungen überall hinkommt. Einmal sind wir mit Prometheus zum Tierarzt gegangen. Dieser konnte aber nur eine stabile Gesundheit bestätigen. Der Tierarzt schätzte ihn allerdings auf mindestens 100 Jahre, genau festlegen wollte er sich aber nicht. Auf jeden Fall hat Prometheus die Lebenserwartung anderer Hausschildkröten schon weit überschritten. Allein ich kenne ihn ja schon seit über 35 Jahren. Damals war er schon so groß wie heute. Leider haben wir seinerzeit niemanden gefunden, der über sein Alter hätte Auskunft geben können. Prometheus schien jedenfalls schon immer in diesem Garten zu wohnen.

 

Sara sagt, Prometheus sei ein bedeutender Wissensträger, ein Philosoph und ein Vorausdenker, klug und bedacht, der irgendwann, sein Ur-Wissen über die Evolution seiner Gattung vor Millionen von Jahren weitergeben müsse. Als Neunjährige hat sie uns davon überzeugen wollen, dass die Erde auf einer Riesenschildkröte liegen würde. Diese Periode hat aber nur ein paar Monate gedauert.  

 

Obwohl Schildkröten Allesfresser sind, knappert unser Prometheus am liebsten Salat, den Sara extra für ihn anbaut, immer der Jahreszeit angepasst unterschiedliche Arten. Am liebsten frisst er den lila farbigen, gekräuselten Lollo Rosso. Er vertilgt ihn kiloweise. Das mag auch der Grund sein, warum sein Panzer leicht lila schimmert.

 

Vor ein paar Tagen kam ich nach der Arbeit nach Hause und habe Prometheus im Wohnzimmer, genauer gesagt an der Terrassentür, angetroffen. Er schien auf mich gewartet zu haben. Regungslos und gleichzeitig erwartungsvoll blickend mit vorgestrecktem Hals raschelte er mir etwas zu. Warum diese Tür offen stand, konnte ich nicht nachvollziehen, denn es war niemand zu Hause. Der Gedanke, dass er auf mich gewartet haben könnte, machte mich glücklich. Es war fast wie früher, denn seit Sara so verrückt mit ihm ist, habe ich mich zurück gezogen. Sein Warten hatte etwas Konspiratives und machte mich zu einer privilegierten Mitwisserin, von was auch immer. In den letzten Jahren kroch immer wieder ein wenig Eifersucht in mir hoch, wenn seine Aufmerksamkeit ausschließlich Sara galt. Es hatte sich wie ein Hallo angehört, was da über seine kräftigen Kiefernleisten kam. Irgendwie zischend und fauchend war es wie ein Schwall aus ihm herausgestürzt. Prometheus gab sonst eher selten Töne von sich und wenn, dann waren das immer sehr tiefe Laute, die meist Angst vor dem Hund des Nachbarn signalisierte. Aber am meisten hasste er am Haus vorbeilärmende Feuerwehr- und Ambulanzsirenen.

 

Kam dieses Hallo-Geräusch wirklich von Prometheus?

 

Ich blickte erneut auf ihn. Er schaute mich mit seinem leicht erhobenen Kopf über dem runzeligen, langen Hals direkt an. Sein Blick war intensiv, fast bittend oder bedauernd. Ich wusste es nicht genau, war aber gerührt und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich ging in die Hocke und streichelte ihm sanft über seinen rauen Kopf, den er mir entgegenstreckte. Nach ein paar Minuten ließ ich ihn an der Tür zurück und räumte den Geschirrspüler aus.

 

Als Sara nach Hause kam, erzählte ich ihr umgehend von meiner Begegnung mit Prometheus an der Terrassentür und sie verstand sofort. Was sie dann sagte, beschämte mich tief, denn ich schien nichts begriffen zu haben.

 

„Die Schildkröte gehört im weitesten Sinne zur Gattung der Sauropsida, wie die Dinosaurier auch. Wenn man bedenkt, dass es diese Art von Reptilien schon seit ungefähr 300 Millionen Jahren gibt und der homo sapiens, großzügig betrachtet, erst seit 300 000 Jahres existiert, wäre es eher verwunderlich, wenn diese Tiere nicht gelernt haben sollen, untereinander zu kommunizieren. Schildkröten sind friedlich, können besser sehen, besser hören und besser riechen als Menschen und wissen immer wo es lang geht. Ihr Orientierungssinn ist extrem ausgeprägt.“

 

Saras Vortrag purzelte mit enthusiastischer Leidenschaft aus ihr heraus. Aber wenn es um die Qualitäten ihres Lieblings ging, stieß sie bei mir eh offene Türen ein. Sie machte eine nachdenkliche Verschnaufpause und fuhr bedeutungsvoll und nachdrücklich fort:

 

„Prometheus wartet darauf, sterben zu dürfen, Mama und muss vorher seine Geschichte übergeben. Wir müssen ihm eine kleine Schildkröte kaufen, damit er endlich all seine über Generationen hinweg erworbenen und gespeicherten Weisheiten weitergeben kann. Er ist seinem Namen schließlich etwas schuldig. Wir brauchen jetzt sofort eine junge Schildkröte für Prometheus. Mit dem Hallo hat er auf sich aufmerksam machen wollen. Dich kennt er am längsten und Dich hat er auserwählt, Mama. Verstehst Du das nicht.“

 

Ich verstand, rannte sofort zum Auto und fuhr direkt in die nächste Zoohandlung, um eine Schildkröte für Sara beziehungsweise für Prometheus zu kaufen. Die neue Schildkröte war ein wenig kleiner, sah aber nicht sehr viel jünger aus. In dem Geschäft hatte man mir versichert, das Tier sei noch keine fünf Jahre alt. Das müsste reichen. Sara und Prometheus warteten ungeduldig auf der Treppe vor dem Haus auf mich. In einem archaisch-primordialen Zeremoniell, präsentierten ihm Sara und ich die junge Schildkröte. Prometheus schien abgeklärt und dankbar zu nicken. Wir deponierten die beiden Tiere in seiner Lieblingsecke in Saras Zimmer und verließen diskret und irgendwie würdevoll den Raum. Erst ein paar Stunden später wagte es Sara, schlafen zu gehen. Die beiden Schildkröten kümmerten sich aber gar nicht um sie. Sara erzählte später von den tiefen Tönen aus der Ecke, in der die beiden Schildkröten mit zusammengesteckten Köpfen drei Tage lang ohne etwas zu essen oder zu trinken ausharrten und eifrig tuschelten. Am Morgen des vierten Tages wachte Sara auf, merkte sofort, dass etwas passiert war und rief mit zittriger, kleiner Stimme nach mir.

 

Prometheus war in den Sauropsida-Himmel entwischt. Dass die neue Schildkröte ebenfalls so heißen würde, stand außer Frage. Der neue Prometheus blickte erwartungsvoll, fragend aber auch irgendwie anerkennend und zufrieden auf uns.

 

Mein Vater war ein weiser Mann.

 

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