von Helmut Blepp

 

Mit Gitti kann man Pferde stehlen. Sie ist sozusagen mein bester Kumpel. Nach mehreren enttäuschenden Beziehungen haben wir beide beschlossen, erst einmal solo zu bleiben und das Leben in aller Freundschaft zu genießen, wie es gerade kommt.

An diesem heißen Sonntag holt Gitti mich in ihrem neuen Wagen ab, einem flotten Japaner, und wir fahren übern Rhein nach Deidesheim, wo sie uns für eine Weinprobe angemeldet hat. Wir finden den Winzerhof auf Anhieb. Ein buntes Schild weist uns den Weg zum Weinkeller, einem großen Sandsteingewölbe, dessen feuchte Kühle uns nach der Hitze, die draußen herrscht, sehr willkommen ist.

Wir gehören zu den Nachzüglern. Die meisten Plätze um den großen Eichentisch sind schon besetzt. Kurz entschlossen klemmen wir uns auf die Eckbank neben ein älteres Paar, das sich lautstark in pfälzischem Dialekt zankt.

„Heit trinkschd awa ned so viel wie letschtes Mol“ sagt die Frau gerade. Wir grüßen freundlich, und sie verstummt.

Die Probierstube ist urgemütlich. Die gekalkten Wände sind mit ulkigen aus Wurzelholz geschnitzten Fratzen geschmückt. Von der Decke hängen historische Weinbauutensilien. Aus verborgenen Lautsprechern ertönt leise Stimmungsmusik.

Als der Winzer mit seiner speckigen Lederschürze eintritt, gibt es ein lautes Hallo. Er schaut in die Runde und begrüßt uns fröhlich mit dröhnender Bassstimme. Dann verteilt er die Probegläschen mit dem Wappen des Weinguts. Er wählt eine Weinflasche aus dem Sortiment, das schon bereitsteht, preist ihren Inhalt an und schenkt dabei aus. Alle heben die Gläser zum Mund und lassen den Geschmack des Rieslings auf sich wirken. Wie die meisten am Tisch spucke ich den Wein dann nicht in eines der bereitgestellten Eimerchen, sondern schlucke ihn hinunter. Genauso verfahre ich mit etwa zwanzig Proben, die danach kommen. Gitti als Chauffeuse hält sich zurück.

Die Gesellschaft wird immer lustiger. Der Winzer stellt die Musik lauter, und wir singen einige Gassenhauer, während wir uns noch ein paar gute Tropfen gönnen. Mit der inoffiziellen Hymne begabter Trinker „Palzwoi als in mich noi“ endet dann die Veranstaltung. Ich kaufe eine Kiste Grauburgunder.

Singen macht hungrig. Ich lade Gitti zum Essen ein, und schon bald sitzen wir in einem gemütlichen Traditionslokal und lassen uns Fleeschknepp mit Meerrettichsoß munden. Dazu schlürfe ich zwei Viertel Blanc de Noir.

 

Später auf der Heimfahrt hänge ich wie Watte im Gurt. Der Wein und das warme Wetter haben mich träge gemacht. Selbst zum Reden bin ich zu faul, weshalb Gitti die Konversation überwiegend allein bestreitet. Und was für kluge Dinge sie sagt! Ich könnte ihr stundenlang zuhören und sie dabei unentwegt anschauen. Wie schön sie auf einmal ist, wie bezaubernd ihr Lächeln.

Ich lasse meine Gedanken treiben, bis Gitti vor meiner Wohnung anhält. Sie möchte nicht mit hochkommen, also schnappe ich mir meine Weinkiste und gebe brav Küsschen zum Abschied. Müde betrete ich das Treppenhaus. Im zweiten Stock begegnet mir Klausi, der Nachbarsjunge.

„Hast du meine Schildkröte gesehen“, fragt er grußlos.

„Nee, du! Ist sie dir weggelaufen?“

„Schildkröten laufen nicht“, meint er altklug. „Sie gehen. Ganz langsam. Und meine erst recht, weil sie nur drei Beine hat.“

„Ach, das tut mir aber leid. Hatte sie einen Unfall?“

„Weiß ich nicht. Papa hat sie so gekauft. Zum halben Preis, hat er gesagt. Aber ich muss jetzt weitersuchen. Es gibt bald Abendessen.“

„Viel Glück dabei!“

Ich will schon weiter in die dritte Etage, da ruft er mir noch hinterher: „Wenn du sie findest, dann sag ihr, sie soll sofort nach Hause kommen, sonst kann sie was erleben.“

„Gemacht“, verspreche ich, ohne mich noch einmal umzudrehen.

 

In meinem Wohnzimmer stelle ich die Weinkiste auf dem Tisch vorm Sofa ab und lasse mich in die Polster fallen. Nur ein paar Minuten, denke ich, während mir schon die Augen zufallen. Als ich sie wieder öffne, ist es schon dunkel draußen. Irgendetwas hat mich geweckt, doch ich weiß nicht mehr, was. Gähnend mache ich das Lämpchen auf dem Beistelltisch an und sehe doch tatsächlich eine Schildkröte auf dem Teppich vor meinen Füßen. Es muss die von Klausi sein, denn ihr linkes Hinterbein fehlt.

„Da bist du ja“, spreche ich sie an. „Nach dir wird schon gefahndet.“

„Hallo erst mal“, erwidert sie. „Soll er doch suchen, der Lausebengel. Ich brauche auch meine Auszeiten. Oder hättest du Bock, den ganzen Tag als dreibeiniges Spielzeug durch Haus und Garten gescheucht zu werden.“

„Das sehe ich ein“, stimme ich zu, denn das Argument der Schildkröte greift. Klausi ist wirklich hyperaktiv. „Aber sag mal, was ist denn mit deinem Bein passiert?“

„Da hat mich mal eine Krähe erwischt, als ich noch klein war. Ich konnte ihr damals entkommen, aber das Bein hat sie mitgehen lassen.“

„Traumatisches Erlebnis, was?“

„Schnee von gestern. Ich komme klar. Man muss sein Schicksal halt annehmen.“ Sie grinst mich schelmisch an und ergänzt: „Deines ist wohl die Gitti, nicht wahr?“

Mein Mund ist ganz trocken. Ich reiße die Weinkiste auf und hole eine Flasche heraus. Sie hat zum Glück einen Schraubverschluss, so dass ich sie sofort öffnen und einen langen Schluck nehmen kann.

„He, trinkst du immer allein“, beschwert sich die Schildkröte.

Was soll´s, denke ich, fülle den unbenutzten Aschenbecher mit Grauburgunder und stelle ihn vor ihr hin.

„Das mit Gitti siehst du falsch“, nehme ich das Gespräch wieder auf. „Wir sind wirklich nur gute Kumpel. Wir kämen nie…“

„Quatsch“, fährt die Schildkröte dazwischen und hebt den Kopf. „Du machst dir was vor. Schenke noch mal nach. Dann werde ich dir mal was über Frauen erzählen.“

In der Tat, der Aschenbecher ist leergetrunken. Ich fülle ihn großzügig mit Wein und fordere sie auf: „Jetzt erzähl schon!“

 

Am Morgen strahlt mir brutal die Sonne ins Gesicht. Ich liege voll bekleidet auf dem Bett. Sogar die Schuhe habe ich noch an. Mein Schädel brummt, und ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wie ich es ins Schlafzimmer geschafft habe. Vorsichtig schleppe ich mich ins Bad, dieweil ich versuche, mich an den gestrigen Abend zu erinnern.

Mann, muss ich besoffen gewesen sein! Da habe ich doch wirklich geträumt, ich hätte mit einer Schildkröte gezecht. Was der Alkohol aus einem Menschen machen kann! Ich schaue in den Spiegel und schäme mich fast vor mir selber, kann aber ein albernes Kichern kaum unterbinden. Die soff wie ein Loch, erinnere ich den Traum. Und Stories hatte die drauf! Ich habe mich fast wund gelacht, aber ich könnte nicht eine davon nacherzählen.

Im Wohnzimmer stinkt es nach Wein. Vier leere Flaschen stehen neben dem Sofa. „Komasäufer“, schelte ich mich selbst, während ich mich ächzend bücke, um den Aschenbecher aufzuheben, den ich wohl im Suff vom Tisch gewischt habe.

 

Heute reize ich die Vertrauensarbeitszeit gnadenlos aus, beschließe ich. Jetzt brauche ich erst einmal ein halbes Dutzend Espressi und Thomapyrin.

Die Rosskur hilft. Gegen neun Uhr setzt meine Wiedermenschwerdung ein, um zehn mache ich mich auf den Weg ins Büro. Als ich aus dem Haus trete, treffe ich auf Klausi, der mit seiner Schildkröte im Vorgarten spielt.

„Schön! Du hast sie ja wiedergefunden“, gratuliere ich ihm.

„Von wegen! Sie saß heute Morgen schnarchend vor der Wohnungstür. Und nach Alkohol hat sie gestunken!“

Ich sehe hinunter zu der Schildkröte – und sie lächelt mich an. Ich schaue genauer hin – und sie zwinkert mir zu.

Verwirrt mache ich mich auf den Weg zu meinem Auto. Dieses Tier ist mir nicht ganz geheuer. Um auf andere Gedanken zu kommen, nehme ich mir vor, vom Büro aus gleich Gitti anzurufen. Vielleicht können wir uns in der Mittagspause treffen. Irgendwie habe ich Sehnsucht nach ihr.

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