Von Siegfried Reitzig
Ich bin Wolfgang, und heute ist ein großartiger Tag!
Es geht mir richtig gut und ich kann voller Zuversicht in die Zukunft blicken.
Mein schlechtes Gewissen drückt zwar etwas auf die Stimmung, aber ich glaube an das Gute im Menschen, also auch an das Gute in mir und was ich getan habe, wird je nach Sichtweise der Verurteiler als schweres Vergehen gelten oder als halbwegs normales Verhalten.
Mein Sternzeichen ist der Löwe und mein Aszendent der Skorpion, was mich als leidenschaftlichen Menschen auszeichnet, der keine halben Sachen macht – das ist wohl so.
Im chinesischen Horoskop bin ich ein Pferd und mein Geburtsjahr weist mich sogar als heißblütiges Feuerpferd aus, das leicht und schnell in Wut gerät und zu unüberlegten Handlungen neigt – oh ja.
Nach dem Studium der Lehre von den vier Temperamenten stellte ich fest, dass auf mich am ehesten der Choleriker zutrifft, der stets ungeduldig ist und mit Volldampf nach vorne stürmt – auch das ist wahr.
Dass mein Krafttier-Orakel die Schildkröte ist, weiß ich erst seit vorgestern, aber vielleicht ist das auch gar nicht mehr so, denn nachdem ich im Zoohandel die Schildkröte gekauft habe, ist viel passiert.
Ich werde euch ehrlich alles berichten und hoffe auf Verständnis und Nachsicht.
Dass ich mich für die Tiergattung eines kriechenden Reptils als Haustier entschied, hatte seine Ursachen zum einen in einer einfachen und unkomplizierten Haltung, zum anderen suchte ich aber auch nach einem beruhigenden Gegenpol für mein unstetes Leben.
Es wurde eine griechische Landschildkröte und sie sollte auf dem umzäunten Rasen vor meiner Terrasse leben.
Dann passierte das Unglaubliche: „Hallo“, sagte die Schildkröte in meinem Wohnzimmer, nachdem sie durch die offene Terassentür hereingekommen war.
Ich erstarrte fassungslos und nachdem ich mich wieder bewegen konnte, blickte ich mich erstmal nach einer Erklärung suchend im Raum um.
Das durfte doch nicht sein – Tiere können nicht sprechen, und auch, wenn ich so manchem Aberglauben oder den kleinen Wundererzählungen aus den sozialen Netzwerken durchaus zugeneigt bin – eine sprechende Schildkröte hatte in meinem Leben keinen Platz, jedenfalls bisher nicht.
Mein neuer Hausgenosse sprach aber wirklich zu mir, und legte nun erst so richtig los:
„Ich bin dein Krafttier und du hast mich zu dir gerufen, indem du mich im Zoogeschäft ausgesucht und gekauft hast. Nun bin ich hier bei dir, ich bin dein indianischer Tiergeist und kann dir Bedächtigkeit, Ruhe und Kraft geben.“
Das hörte ich natürlich gern, denn darum hatte ich ja ein ruhiges und langsames Tier ausgesucht – ich begann, Vertrauen zu fassen.
„Ich kenne dich gut“, fuhr meine Schildkröte nun fort, „du bist oft überhastet und ungestüm, du hörst nicht richtig zu und handelst unüberlegt, von deinem Jähzorn mal ganz zu schweigen. Sieh dagegen mich an, ich bin die Ruhe selbst und gehe achtsam und mit Überlegung durch mein Leben.
Du kannst viel von mir lernen.“
Was die Schildröte sagte, überzeugte mich endgültig und ich glaubte meinem Krafttier. Gebannt hing ich an den kräuseligen Reptilienlippen, um folgendes zu erfahren:
„Ich werde so lange für dich da sein, wie du es möchtest und dich führen, unterstützen oder warnen.
Wenn du es willst, kann ich dir auch erzählen, wie dein Leben verlaufen wird. Möchtest du hören, was ich über deine Zukunft weiß?“
„Ja, ja“, rief ich nun aufgeregt und ungeduldig, „wie geht es weiter mit mir?“
„Dein bisheriges Leben wird schon bald zu Ende sein, mein Lieber“, hörte ich mein Krafttier nun sagen. „Du wirst dich nicht mehr in deinem ungeliebten Beruf quälen müssen, um das Geld für dich und deine Familie zu verdienen. Du kannst endlich zur Ruhe kommen.“
Wie war das?? Was hatte dieser scheinbar allwissende Tiergeist gerade zu mir gesagt??
Mein Leben wird schon bald zu Ende sein??!!
Ich werde sterben – schon bald???
Ich verlor augenblicklich die Beherrschung – heftige Wut gepaart mit tiefster Verzweiflung und abgrundtiefer Angst vor meinem nahenden Tod überfielen mich.
„Du miese Kröte, so haben wir nicht gewettet!“ brüllte ich vollkommen außer mir, „da kommst du einfach daher mit deinem Orakel und ich soll bald sterben? Verschwinde aus meinem Leben, und zwar sofort!“
Die Schildkröte verstummte augenblicklich, ihr Blick erlosch und sie zog sich in ihren Panzer zurück.
Da waren sie wieder – mein Jähzorn und die unbändige Wut. Vor meinen Augen tanzten Lichtblitze und in meinen Ohren rauschten die Viktoriafälle.
Das konnte ich mir so nicht gefallen lassen, es galt, sofort die Initiative zu übernehmen und zu handeln.
Einer bösen Eingebung folgend, besann ich mich auf meinen Beruf als gelernter Koch und mein erbarmungsloser Blick fiel auf die Schildkröte. Ich wollte noch nicht sterben und gab dem Tiergeist-Orakel die Schuld daran, dass mein Tod offenbar kurz bevorstand.
Meine letzte Mahlzeit sollte zum Henker eine Schildkrötensuppe werden und ich wusste genau, was dafür zu tun ist.
Das notwendige Gemüse befand sich wie auch die Kräuter im Kühlschrank und schon zwei Stunden später duftete die Küche verführerisch lecker. Ich hatte mich wieder beruhigt, was meinem Appetit aber keinen Abbruch tat.
Ich aß nun zwei Teller Suppe und trank dazu eine Flasche edlen französischen Rotwein, der die nötige Bettschwere für einen hoffentlich angst- und alptraumfreien Schlaf bewirken sollte.
Dies alles passierte am gestrigen Samstag, und weil ich auch ein Mensch mit festen Gewohnheiten bin, hatte ich mir noch die Nachrichten im Fernsehen angeschaut und wie immer auch die Lottozahlen kontrolliert.
Ich – hatte – den – Jackpot – ge – knackt !!!
Es fühlte sich vollkommen unwirklich an, aber ich war nun Millionär.
Mein bisheriges Leben wird schon bald zu Ende sein, ich werde mich nicht mehr in meinem ungeliebten Beruf quälen müssen, um das Geld für mich und meine Familie zu verdienen und kann nun endlich zur Ruhe kommen.
Hatte mir das Krafttier-Orakel das nicht alles schon prophezeit?
Was hatte ich getan???
Aber sei`s drum, es lässt sich ja nun nicht mehr ändern und für die Zukunft nehme ich mir ganz fest vor, besser zuzuhören.
Ich bin Wolfgang, und heute ist ein großartiger Tag!
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