Von Maria Monte

Hallo, ich heiße Virgi, das kommt von Virginia und weist auf mein Geburtsland hin. Vor fünf Jahren kaufte mich meine jetzige Freundin, Pflegerin und Versorgerin und so habe ich wieder eine Familie, obwohl ich ganz gerne eine Einzelgängerin bin und gut alleine zurechtkomme. Aber ab und an freue ich mich doch über einen Happen animalische Kost, etwas Grünes und frisches Wasser. Ach, und natürlich brauche ich immer Auslauf und einen Unterschlupf und viel Wärme und Licht. Das regelt meine Freundin für mich, dafür bin ich ihr dankbar und knabbere dann mal zart an ihrem Finger als Dankeschön. Sie mag mich und freut sich an meiner gelben Maserung, die sich auch auf meinem Pleuralschild zeigt. Ja, ich bin eine echte nordamerikanische Buchstabentrachemys und stolz auf mein Aussehen.

Nach einigen Wochen in meiner neuen Umgebung erfuhr ich auch, warum sich meine Versorgerin gerade für mich entschieden hat. Sie liebt Buchstaben und suchte die ersten Monate die an mir versteckten Zeichen. Inzwischen deutet sie meine Hornschichten für ihre Zwecke und ich lasse ihr das Vergnügen. Ich wohne in den Übergangszeiten zwischen Winter und Frühling sowie zwischen Herbst und Winter einige Zeit in einem Terrarium, das vorher das Zuhause von einem Brillenkaiman war. Dazu gibt es natürlich auch einiges zu sagen, aber das erzähle ich euch vielleicht später einmal. Heute soll ich die Geschichte von meinem Wohnzimmertrip erzählen.

Mein Winterquartier habe ich in einem separaten Kühlschrank in der Küche meiner Freundin. Es ist eine Kunststoffkiste, die mit lockerem, nicht zu lehmigen Substrat und einer Schicht Buchenlaub und Moos ausgepolstert ist. Da kann ich getrost und schildkrötengerecht meinen Winterschlaf halten. Gelegentlich wird die Kühlschranktür geöffnet und ich bekomme frische Luft. Danach schlafe ich noch tiefer und fester. Und ich werde auch ab und an gewogen, was ich aber nicht bemerke. Meine Versorgerin passt gut auf, damit ich nicht krank werde und mein Stoffwechsel auch in der Ruhezeit gut funktioniert.

Wie ich so schlafe und vom Frühling träume, regt sich plötzlich in mir etwas. Nun ahne ich natürlich nicht, dass Vollmond ist und meine Hormone in mir angeregt werden. Ich spüre ein Kribbeln, überall, und die frische Luft riecht nach Frühling. Ich dehne und strecke mich und da – plötzlich kippt mein Winterhotel um und ich liege auf dem Küchenboden. Das war ein Schreck! Nun bin ich fast wach und zappele mit meinen Beinen und ziehe immer mal den Kopf vor und zurück. Alleine diese Bewegungen bringen mich auf Temperatur. 

Ich liege zum Glück auf der Seite und kann mich also auf meine Beinchen drehen. Meine Freundin hat offenbar nichts mitbekommen, es ist ganz still um mich herum. Aber es riecht. Ich schnuppere Löwenzahn. Sofort läuft mir das Wasser im Schnabel zusammen und mir fällt ein, dass ich ja auch Wasser trinken sollte. Ein wenig Wasser finde ich neben meiner Kiste, ich schlürfe davon und meine Lebensgeister beleben sich merklich. Nun habe ich keinen Bock mehr auf Schlaf und Winter. Löwenzahn ist ein sicherer Duft für Frühling. Das habe ich in den fünf Jahren gelernt. Leider bin ich recht langsam unterwegs, aber einen Versuch sollte es wert sein. Ich strebe also dem Geruch entgegen, gaaanz langsam. Er kommt aus dem Wohnzimmer. Das sind nur wenige Schrittchen, mühselig, aber für meine totale Rehibernation notwendig. Irgendwann stehe ich vor dem Tisch, auf dem die Salatschüssel zu sehen ist. Von dort kommt der verlockende Duft. Noch immer scheine ich allein zu sein, meine Freundin wird mich doch nicht vergessen haben? Ich wende meinen Kopf hierhin und dorthin. Der Geruch macht mich wahnsinnig! Ich kann nur noch an Essen denken. Da sehe ich knapp über mir ein Stück Stoff herabhängen. Das könnte vom Tisch kommen. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Also zupfe ich daran, ziehe wieder meinen Kopf ein und lasse den Zipfel nicht los. Ich kann nicht sagen, wie lange ich schon wach und aktiv bin. Plötzlich knallt neben mir die Schüssel vom Tisch. Das Geräusch erschreckt mich dermaßen, dass ich sofort instinktiv den Kopf einziehe und warte. Leider duftet es nun neben mir sehr verführerisch. Zu lange will ich nicht widerstehen!

In diesem Moment springt meine Freundin von der Couch hoch. „Ach du Schreck“, höre ich. Es muss wohl nur ein kleines Nickerchen gewesen sein, zum Glück für mich. Ob sie auch in eine Hibernation fallen kann, weiß ich noch nicht so genau. Jedenfalls bin ich froh, dass sie wach ist und mich entdeckt hat.

„Hallo, Virgi, was machst du denn hier“, empfängt sie mich und ich freue mich, ihre Stimme zu hören. Brav antworte ich: „Hallo Darling“. Mit scheint, sie hat mich gehört. Sie kommt und krault mir meinen Hals. Nun weiß ich, wovon ich geträumt habe.

Der Vollmond lacht ins Zimmer, es ist Frühling.