Von Miklos Muhi

»Hallo«, sagt die Schildkröte in meinem Wohnzimmer.

»Hallo Maturin«, antworte ich. »Was verschafft mir die Ehre?« 

 

Sie sitzt auf einer riesigen, grünen Blume. Der kurze lila Stamm schaut mich fragend an. Die knallroten Blätter versuchen, mir etwas zu sagen. Ich höre jedoch nichts. Der Schrei meines Selbst nach seinem abhandengekommenen Gleichgewicht ist zu laut.

 

»Du hast Angst«, sagt sie.

»Wer hat sie nicht?«, frage ich und versuche, mit einem Lächeln etwas Selbstsicherheit ins gelbe Licht meines Wohnzimmers zu strahlen. Der Mond aus verfaultem Kassler schaut gleichgültig zu.

 

»Raus mit dem Sperrmüll«, sagt Maturin. »Ist er weg, hilft das auch gegen den Schimmel der Depression.«

 

Ich atme tief durch. Die Blume duftet verführerisch nach frisch gebackenen Butterkeksen, erfrischend, wie der Flug der Katzen im Sommer. Der Duft macht meine Nase für den allgegenwärtigen Schimmelgestank empfindlich.

 

»Ich bin am Arsch«, murmele ich und fange an zu weinen. Es schmeckt nach ausgelaufenen Akkus. Meine Tränen sind wie Tusche. Sie hinterlassen Flecken der Schwäche auf allem, womit sie in Berührung kommen.

 

»Wasch Dich damit«, sagt Maturin.

Sie schaut in meinen Kopf. Oder bin ich so vorhersehbar wie ein türloses Zimmer in einem Puff?

 

Ich wasche mich und weine. Alle peinlichen Episoden aus meinem Leben laufen verzerrt und im flackernden Licht vor den Augen ab, wie abgespielt auf einem alten Beamer.

 

Alles wird befleckt, selbst der weiße Karateanzug, ein Sinnbild von Männlichkeit, Wehrhaftigkeit und Stärke. Die schwarzen Fluten verschlucken die Teilnehmermedaillen der Halbmarathonrennen.

 

Sie trägt die Selbstmordgedanken weg, zusammen mit den Forderungen nach immer mehr Leistung mir selbst gegenüber. In den hinterlassenen Mulden sammelt sich die Erkenntnis, dass ich bald 50 Jahre alt und schwächer und langsamer werde.

 

Die Aussichtslosigkeit wird weggespült. Sie hat kein Gewicht. Nur meine eigene Kraft hielt sie bisher fest.

 

Klumpen graubläulichen Schimmels schwimmen mit den Fluten weg, meine Tränen versiegen. Der Geschmack alter Akkus verschwindet. Die Tusche fließt ab wie Schmutz von einem Lotosblatt und versickert in den Boden der Tatsachen.

 

Der Schimmelgestank verblasst. Nur der Duft der Butterkekse schwebt im Raum. Maturin lächelt.

 

»Nächstes Mal warte nicht so lange, bis ich den Gestank nicht mehr ertragen kann und hier erscheinen muss«, sagt sie.

»Danke«, sage ich und wische meine letzten Tränen ab. Die sind klar wie Quellwasser.

»Es gibt nichts zu danken«, antwortet sie und verschwindet zusammen mit der stillen Blume, wie sie aufgetaucht ist.

 

Nur das saubere Wohnzimmer und die eigenen Schwächen bleiben. Ich akzeptiere und feiere sie.

 

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