Von Bàra Wiebke Grollius

„Hallo, sagte die Schildkröte in meinem Wohnzimmer“

„Hallo“ entgegnete ich. „Es ist mir eine riesengroße Freude, dich begrüßen zu dürfen.“

„Danke. Es war eine aufregende Reise zu dir.“

„Erzähle mir doch bitte von deiner Reise. Welchen Weg hast du genommen? Wen hast du getroffen? Was hast du erlebt? Ich möchte alles hören.“

„Nun gut, ich will es dir erzählen. Nimm bitte Platz.

Es war vor zwei Wochen, als ich auf den Galapagosinseln in Ecuador geboren wurde, wie du weißt. Meine Mama hatte meine Geschwister und mich zunächst in ein Ei verpackt, in dem wir in unserem kuscheligen Nest am Strand heranwuchsen. Als die Zeit reif war, schlüpften wir aus unserer schützenden Kalkhülle. Die Welt begrüßte uns zunächst mit Dunkelheit, denn es war Nacht. Meine Geschwister waren sehr schnell. Sie traten sofort ihren Weg ins Meer an. Doch bei mir dauerte es länger. Ich verlor den Anschluss. Ganz allein war ich, als ich endlich den letzten Rest Eischale von meinem Körper gestrampelt hatte. Inzwischen wurde es hell. Der nächste Tag brach an. Nicht nur hatte sich das Tageslicht eingestellt, sondern auch wurde es am Strand urplötzlich ungemütlich. Überall liefen Menschen herum. Ich glaube, sie suchten uns. Du fandest mich. Sehr vorsichtig nahmst du mich auf, untersuchtest mich und brachtest mich zum Wasser. Dafür war ich dir sehr dankbar, denn mein Schlüpfen war sehr anstrengend. Sicherlich wäre ich ohne deine Hilfe in der Sonne verdorrt. Das Wasser fühlte sich herrlich an. Ich begann sogleich zu schwimmen. Doch meine Familie fand ich nirgendwo. In der Not bat ich eine andere Schildkrötenmama darum, mich aufzuziehen bis ich stark genug sein würde, meine eigenen Wege zu gehen. Zum Glück willigte sie ein. Für kommende Zeit hatte ich eine neue Familie.

Ich wuchs sehr schnell. Dabei entdeckte ich die Welt. Zunächst lernte ich unseren Strandabschnitt kennen. Aber meine Mama traf ich dabei leider nicht wieder. Das machte mir gar nichts aus, das Leben war ja so aufregend!

Als ich groß genug war, erkundete ich das Meer abseits unseres Strandes. Hier gab es ja noch viel mehr zu entdecken! Fische in allen Größen, hohe Wellen und leider Unrat im Meer. Von den großen Fischen und dem Unrat hielt ich mich instinktiv fern.

Eines Tages passierte mir etwas, das mich zunächst erschrecken ließ. Während einer meiner Schwimmausflüge wurde es plötzlich sehr laut um mich herum. Ein wildes Sausen und Gluckern brachte mich fast um den Verstand. Als es wieder ruhiger wurde, war ich nicht mehr im Meer. Ich befand mich in einer Pfütze aus Wasser. Die Pfütze bewegte sich langsam von der einen Seite zur anderen. Aufgehalten wurde sie auf jeder Seite von einer harten, hohen, rostig-braunen Stahlwand. Ich war in einem Schiff gefangen. Die Pumpen hatten mich angesaugt. So war in im Inneren des Schiffsbauches gelandet. Oh weh, was würde meine Familie sagen, wenn ich länger fortblieb. Mehr noch machte ich mir Gedanken darüber, was ich heute Abend zu essen haben würde. Der Schiffsbauch sah nicht gerade einladend aus. Einige Kisten standen festgezurrt auf dem Boden. Auf den Kisten lagen einige Säcke. Mit der nächsten großen Welle kullerte einer der Säcke herunter und landete genau neben mir. Ich hatte großes Glück, dass ich nicht vom Sack erschlagen wurde. Sogleich machte ich mich daran, die Hülle aufzuknabbern. Es roch gut im Innern, das spornte mich an. Als ich ein Loch geschaffen hatte, rieselte etwas heraus. Ich probierte es und fand, dass es köstlich schmeckte. Also genehmigte ich mir noch etwas davon. Als ich mich gesättigt hatte, nahm ich ein paar Schluck Wasser aus der Pfütze zu mir. Dann begann ich mich weiter umzusehen. Viel gab es nicht zu entdecken. Ich entschloss mich daher, ein Nickerchen zu machen und abzuwarten.

Von lautem Gerumpel wurde ich geweckt. Ich erschrak und krabbelte durch das Loch in den heruntergefallenen Sack. Ich spürte eine zügige Aufwärtsbewegung. Sogleich ging es wieder abwärts. Als sich nichts mehr bewegte, wagte ich einen Blick aus dem Sack heraus. Ich konnte den blauen Himmel über mir sehen. Doch wo war ich? Kaum hatte ich mich das gefragt, fing alles um herum zu schaukeln. Ich war auf der Lieferfläche eines Kleinlasters gelandet. Nun gut, dachte ich mir. Möge das Abenteuer beginnen. Ich war sehr neugierig, daher verspürte ich überhaupt keine Angst. Der Sack und ich wurden erneut verladen. Diesmal hörte ich das Quietschen von Metall auf Metall. Wir waren in eine Eisenbahn verladen worden. Wohin die Reise mich wohl führen würde? Ich roch andere Tiere im Waggon. Vorsichtig krabbelte ich aus meinem Versteck. Dort standen sie in ihren Boxen, die Esel, Schafe und Ziegen. Alle sahen zufrieden aus. Das konnten sie auch sein, denn jemand hatte sich darum gekümmert, dass sie alle auf frischem Stroh stehen konnten. Wasser gab es auch. Ich wartete, bis ein Esel zu trinken begann. Ich sagte: „Hey lieber Esel, magst du ein wenig mehr als sonst schlabbern, damit etwas Wasser danebenfällt, das ich aufnehmen kann? Ich habe nämlich großen Durst.“ Der Esel verstand mein Anliegen und soff spritzend drauflos.

Einige Zeit später wurden wir wieder verladen. Diesmal landete mein Versteck auf einem kleinen Fahrradgepäckträger. Der Weg war holprig, und ich hatte einige Male Sorge, dass ich mitten auf dem Weg herunterfiele, obwohl der Fahrer des Rades sich alle Mühe gab, die vielen Schlaglöcher zu umfahren. Am Ziel angekommen, hob der Mann mich samt meiner Futterquelle auf die Schultern. Er lud den Sack kurze Zeit später in einer Hotelküche wieder ab. Dort blieb ich erstmal in Deckung. Es war viel los und ich wollte unentdeckt bleiben. Als es dunkel wurde traute ich mich heraus. Neugierig wie ich war, erkundete ich die Umgebung. Vielleicht würde ich noch mehr leckeres Fressen finden? Das Meer vermisste ich noch nicht, es war noch nicht lange her, dass mich das Schiff angesaugt hatte.

Als ich gerade dabei war, durch die Lobby zu krabbeln, öffnete sich neben mir eine Fahrstuhltür. Unbemerkt gelangte ich hinein. Der Fahrstuhl fuhr einige Stockwerke in die Höhe. Als die Tür sich abermals öffnete, verließ ich den Fahrstuhl geschwind wieder. Schildkröten können sehr schnell sein, wenn sie wollen. Auf dem Gang schlug mir ein sehr bekannter Geruch entgegen. Es war dein Geruch. Ich erinnerte mich sofort an dich. Freudig folgte ich dem Duftstoff in meiner Nase. Deine Zimmertür war nur angelehnt, also nahm ich mir die Freiheit, in deinem Zimmer auf dich zu warten. Nun bist du da! Danke möchte ich dir sagen, danke dafür, dass du mich am Strand gerettet hast!“

„Du hast großes Glück, mich hier anzutreffen. Übermorgen wird mein Urlaub zu Ende sein, dann reise ich ab. Morgen früh werde ich dich zurück zu deinem Strand bringen. Aber heute Nacht werden wir uns noch viel erzählen!“

Bàra Wiebke Grollius, 02.05.23