Von Ursula Riedinger

Als ich an diesem Tag anfangs März nach Hause kam, fröstelte ich. Wie froh war ich, endlich in die warme Wohnung zu kommen. Draussen war es gar garstig gewesen. Trüb, regnerisch, windig. Ich schaltete das Licht an. Nachdem ich Handschuhe, Mütze, Jacke und Schuhe ausgezogen hatte, ging ich in die Küche, um mir so rasch wie möglich eine Suppe zu wärmen. Ich entschied mich für Bündner Gerstensuppe, gab in die heisse Suppe noch ein paar Speckwürfel und schnitt mir zwei Scheiben Brot ab. Zugegeben, selbst gemacht war zehnmal besser, aber heute war ich auch mit diesem Süppchen glücklich. Etwas Warmes würde meine Stimmung aufhellen. Ich trug meinen Suppenteller, Besteck und Brot ins Wohnzimmer und setzte mich an den Tisch.

Da hörte ich etwas hinter mir.

„Hallo, Ursula, bog!“ sagte die Schildkröte. Ihre Stimme kam mir bekannt vor.

Ich drehte mich um. Helga? War das Helga gewesen, die grosse Schildkröte aus gepresstem Stein, die bei mir auf einer der Musikboxen stand. Sie war viel grösser als alle anderen Schildkröten in meiner Sammlung, kleine Wesen aus Glas, Bernstein, Edelstein, Holz, Metall, Ton und vielem mehr. Viele davon hatte ich von Freunden bekommen. Wie auch Helga. Helga S. hatte sie mir geschenkt, da sie wusste, dass ich gerne Schildkröten habe.

„Bog, Helga! Kako si?“ Mir war schon klar, dass es nicht nötig war, mit Helga Kroatisch zu sprechen. Aber Helga war mal meine Kroatischlehrerin gewesen. Und es war wohl auch müssig, eine verstorbene Seele danach zu fragen, wie es ihr ginge. Aber was sollte man denn sonst fragen?

Von Helga kam darauf nichts weiter. Sie schaue mich nur an mit ihren schwarzen Knopfaugen. Vielleicht wollte sie auf sich aufmerksam machen. Ich nahm sie von der Box und holte sie zu mir an den Tisch. Ich beschloss, für sie eine Kerze anzuzünden. Ich bin ja nicht katholisch, aber Kerzen sind immer schön und wärmen das Herz.

Danach löffelte ich meine Suppe aus.

Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Heute, am 8. März, war Helgas Todestag. Man liest immer wieder, dass bei gewissen Völkern der Glaube herrscht, dass die Verstorbenen an gewissen Tagen vordringen können zu den Lebenden. Ich fand das sehr spannend. Das war Helga gelungen. Aber was sie von mir wollte?

Ich erinnerte mich noch genau an den Telefonanruf von einer gemeinsamen Bekannten, Jasmina, mitten im Lockdown, die mir berichtete, Helga sei am 8. März in Zagreb an einer Lungenentzündung gestorben. Das stimmte mich sehr traurig. Und es tat mir auch leid für sie, denn Helga hatte in all den Jahren, in denen sie hier in der Schweiz gearbeitet hatte, ihre kleine Wohnung in Zagreb behalten, um ihren Lebensabend dort zu geniessen. Wie so viele andere, die als Sprachlehrerin im Stundenlohn angestellt waren, war ihre Rente tief, die Schweiz teuer, und sie konnte so viel besser leben in Zagreb als in Zürich. Sie, eine äusserst gebildete, kultivierte Frau, hatte dort immer noch viele Freunde.

Helga war, so weit ich mich erinnerte, grösstenteils im deutschen Sprachraum aufgewachsen, ich glaube in Österreich. Darum wurde sie zuerst einmal Deutschlehrerin. Die fröhliche und freundliche Frau kannte ich sie schon lange, bevor sie meine Kroatischlehrerin wurde. Als Kroatischlehrerin war sie, ehrlich gesagt, nicht sonderlich gut, wie das ab und zu bei Leuten der Fall ist, die einfach ihre Muttersprache weitergeben, denen aber die Schwierigkeiten, mit denen die Lernenden konfrontiert sind, nicht ganz bewusst sind. Aber sie war zu diesem Job fast gedrängt worden, denn irgendwann gab es die Sprache Serbokroatisch nicht mehr und die Sprachschule benötigte dringend eine Lehrerin für Kroatisch.

Ehrlich gesagt, die Sprachvarianten Serbisch, Bosnisch und Kroatisch sind sich grammatikalisch sehr nah, unterscheiden sich lediglich ein wenig in Wortschatz und Aussprache. Aber der Krieg hatte halt alles aufgemischt im ehemaligen Jugoslawien.

Als die Kerze heruntergebrannt war, stellte ich Helga zurück auf die Musikbox.

„Laku noć, Helga!“ Es war genauso wenig sinnvoll, einer verstorbenen Seele eine gute Nacht zu wünschen wie sie nach ihrem Befinden zu fragen. Aber ich wollte ihr halt einfach etwas Liebes sagen, nachdem sie sich die Mühe gemacht hatte und bis zu mir vorgedrungen war.

Am anderen Tag rief ich Jasmina an.

„Hat dir Helga gestern auch ein Zeichen gegeben?“ Und ich erzählte ihr von meiner Schildkröte.

Jasmina war erstaunt.

„Ja, tatsächlich, das hat sie. Ich hörte ihre Stimme aus einer winzigen Puppe in kroatischer Nationaltracht, die Helga mir mal mitgebracht hat.“

Wir unterhielten uns noch ein Weilchen über Helga und dieses wundersame Zeichen und verabschiedeten uns dann.

Am 8. März werde ich in Zukunft sicher jedes Mal eine Kerze für Helga anzünden.

 

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