von Eva Fischer

Die Sonne knallt auf den kleinen Balkon. In den Steinfliesen hat sie Verbündete gefunden, denn sie speichern die Sommerhitze ab. Kein Baum, kein Strauch, keine Markise erbarmen sich als Schattenspender.

Gitta steht vor mir und hält ein Wesen in ihrer Hand, das lebhaft mit seinen Armen und Beinen rudert. Hat eine Schildkröte überhaupt Arme?

„Würdest du dich um Kassandra kümmern, wenn wir in Urlaub fahren?“

Ich fasse es immer noch nicht, wie man sich eine Schildkröte als Haustier anschaffen kann, das zudem noch Monate im Kühlschrank seinen Winterschlaf verbringt. Wie abartig ist das denn? Ein Hund zum Spazierengehen, ja, eine Katze zum Streicheln, ja, aber eine langweilige Schildkröte?!

„Sie braucht nur ein paar Salatblätter“, klärt mich Gitta auf.

„Ist sie nicht süß!“, für Gitta ohne Fragezeichen, sondern eine Laudatio. Tatsächlich gibt sie diesem echsenartigen, runzligen Wesen aus der Urzeit einen Kuss.

Ich wundere mich wie so oft, seit ich Gitta wieder getroffen habe. Wir haben vor gefühlten Urzeiten zusammen die Schulbank gedrückt. Da hatte sie Zöpfe und war auch sonst eher bieder als hip. Nun trägt sie ihr langes Haar offen und lebt mit einem Hippie in dem fünfstöckigen Mehrfamilienhaus, in das meine Eltern gerade eingezogen sind, und wo sie mir zufällig über den Weg lief.

Morgen fährt sie mit ihrem Lover für ein paar Wochen an die Costa Brava, natürlich mit einem Bulli, und ich gebe zu, ich beneide sie.  

*

„Sie sah mal aus wie Brigitte Bardot“, sagt Gittas Mann. Ich staune, wie blind die Liebe macht. Seine einst langen, blonden Haare hat das Alter gestutzt und weiß ausgebleicht. Gittas knochiges Gesicht, von einem feinmaschigen Faltennetz überzogen, ähnelt mittlerweile ihrer ehemaligen Schildkröte. Was ist aus ihr geworden? Haben Schildkröten nicht eine längere Lebensdauer als Menschen? Hat Kassandra ihr eigenes Ende vorausgesehen?

Manche Menschen verliert man im Laufe des Lebens aus den Augen, was schmerzt. Andere hingegen bleiben einem erhalten, obwohl man sich nicht angestrengt hat. Am Ende sind sie einem ans Herz gewachsen so wie Gitta. Gemeinsam gelebte Zeit verbindet.

Nach Kassandra kamen ein Sohn und später Enkel. Gitta hat sie alle mit ihrer stoischen Liebe bedacht, hat eine Alzheimer kranke Schwiegermutter und Mutter überstanden und was das Leben sonst noch so anschwemmt, was es nicht gebraucht hätte.

Wir sitzen auf dem Balkon und trinken Tee. Mittlerweile suchen wir unter der Markise Zuflucht vor den Sonnenstrahlen, die uns schläfrig machen.

*

„Hallo!“, sagt die Schildkröte in meinem Wohnzimmer. (Der geneigte Leser verzeihe mir das fehlende „e“, aber ich schreibe gerne im Präsens, weil für mich die Vergangenheit so lebendig wie die Gegenwart ist.)

Die meisten wären erstaunt, wenn sie eine Schildkröte in ihrem Wohnzimmer sähen, dazu noch eine sprechende. Ich hingegen habe sie fast erwartet.

„Bist du Kassandra?“, will ich wissen.

Ihr Blick drückt aus, dass ich mir die dumme Frage hätte sparen können.

„Hast du etwas Gras für mich?“

„Tun es auch ein paar Salatblätter?

Ich gehe zum Kühlschrank und finde tatsächlich im Gemüsefach einen Salat. Mein Blick fällt auf eine gut gekühlte Flasche Weißwein von der Loire. Eigentlich wollte ich sie für Gäste aufheben, doch streng genommen ist Kassandra ein Gast, auch wenn sie vermutlich nicht mit einem Weinglas mit mir anstoßen wird.

„Magst du auch Weißwein?“, frage ich sie dennoch pro forma.

Sie streckt ihren Kopf angewidert zur Seite.

Mit ihrem Kiefer reißt sie sich Happen aus den Blättern. Irgendwann werde ich auch keine Zähne mehr haben, denke ich.

„Und dennoch nicht verhungern“, vollendet sie laut meine Gedanken.

„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“

Kassandra fixiert mich streng mit ihren Augen.

„Ist das jetzt Small Talk oder interessiert es dich wirklich?“

Ich spüre, wie Röte mein Gesicht überzieht.

Es käme auf die Antwort an, denke ich, wohl wissend, dass ich nichts vor Kassandra verheimlichen kann.

„Ja, ja! Ihr Menschen mögt nur Geschichten mit Happy End. Spannend dürfen sie schon sein, aber sie müssen gut ausgehen.“

Kassandra reißt den nächsten Happen ab. Dann schaut sie mich mitleidig an.

„Du bist jetzt alt genug, um zu wissen, dass das nicht geht. Ich muss dir keine Katastrophen mehr aufzählen, du kennst sie schon alle. Über deine Zukunft willst du sicher auch nichts wissen. Stimmt’s?“

Ich nicke.

„Deshalb gibt man uns stummen Schildkröten gerne den Namen „Kassandra“. Man will nichts Unangenehmes hören.“

Ich schütte mir ein Glas Wein ein.

*

„Mutter, seit wann trinkst du am helllichten Tag Wein?“

Seit die Tage immer länger werden, könnte ich antworten. Ich schaue auf den Boden, wo Kassandra aufgehört hat, grüne Blätter zu zerreißen.

„Und wieso liegen da Salatblätter auf dem Boden?“

„Ich wünsche mir eine Schildkröte als Haustier“, sage ich. „Die braucht nicht viel Auslauf.“

Meine Tochter runzelt die Stirn.

„Ich dachte, du findest Schildkröten langweilig“, wundert sie sich.

„Die Zeiten ändern sich“, sage ich und zwinkere Kassandra zu, die scheinbar keiner außer mir sehen kann.

 

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