Von Ines Müller
„Hallo, ich bin die Hanna!“ So fing es an.
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DINGELDIDINGELDIDINGEL!
Wer mag das sein? Ich eile zur Wohnungstür. Durch den Spion sehe ich – ja, was eigentlich? Irgendetwas Dunkles. Das könnten Haare sein. Bart! Ich öffne die Tür, und da steht sie vor mir: eine kurzhaarige Brünette in Jeans, weißem T-Shirt, mit überhaupt keinem Bart (rücklings vorm Spion gewartet?). In den Händen hält sie eine gelbe Kunststoffbox. „Hallo, ich bin die Hanna!“, sagt sie. „Guten Tag!“ „Haben Sie zufällig etwas Platz im Gemüsefach Ihres Kühlschranks?“ „Platz im Gemüsefach meines Kühlschranks?“ „Das wäre sehr hilfreich.“ „Darf ich erfahren, was Sie vorhaben?“ „Mein Kühlschrank ist kaputtgegangen, und ich wollte fragen, ob Olga vielleicht vorübergehend in Ihrem unterkommen könnte?“ „Olga? Wer sind Sie überhaupt?“ „Wie gesagt, ich bin die Hanna. Olga ist meine Schildkröte und eigentlich gerade in ihrer Winterruhe.“ „Aha.“ Will die mich vergackeiern? Ich mustere mein Gegenüber. Sieht eigentlich ganz vernünftig aus. „Wir wohnen seit drei Wochen ein Stockwerk über Ihnen, hinten links“, erklärt Hanna. „Hier in der Stadt kenne ich noch niemanden, und die anderen Mieter vor Ihnen haben alle nicht auf mein Klingeln reagiert.“ „Verstehe.“ Ich nicke. „Es gibt nur ein Problem.“ „Ein Problem?“ „Meine Freundin hat eine Reptilienphobie. Kindheitstrauma durch das Haustier ihres Bruders. Ein Biss führte damals zu einer OP.“ Jetzt guckt diese Hanna bedröppelt. „Olga hat noch nie jemanden gebissen!“ Mein Blick ist an die gelbe Box geheftet. Ich überlege kurz und höre mich sagen: „Meine Freundin ist für drei Monate in Chicago. Bis dahin werden Sie wohl einen neuen Kühlschrank haben.“ „Klar!“ Hanna lacht. „Und lass uns doch duzen.“
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Und Olga zog ein.
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Seit dem Tag, es war ein Montag, ruht also Hannas Olga in meinem Kühlschrank. Hanna hat mir ihre Handynummer gegeben und noch nicht wieder von sich hören lassen.
Das Radio quasselt Werbung, gefolgt von den Nachrichten. Ich öffne den Kühlschrank, um das Frühstück vorzubereiten. Mein Blick fällt auf die gelbe Box. Wie Olga wohl aussieht? Ob sie die Augen permanent geschlossen hat? Es juckt mir in den Fingern, mal in die Box zu gucken. Das Radio verkündet den Wetterbericht: „Es wird stürmisch.“
In mir macht sich ein ungutes Gefühl breit. Was, wenn sich gar keine Schildkröte in der Box befindet? Ich will das arme Tier nicht stören, und am Ende verwahre ich Gott weiß was für irgendeine „Hanna“. Nicht mal ihren Nachnamen kenne ich!
„Jetzt will ich das wissen!“ Vorsichtig öffne ich die Box, schiebe ein paar Blätter zur Seite, und siehe da: „Olga!“ Tatsächlich eine ruhende Schildkröte. Hoffentlich habe ich sie nicht geweckt. Behutsam bringe ich alles wieder in den Ausgangszustand, schließe leise die Kühlschranktür und wasche mir die Hände. Wie süß. Mit einem Lächeln mache ich mich an Frühstücksbrot und Kaffee. Nebenbei recherchiere ich am Handy über Schildkröten.
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Heute schreibe ich ihr eine SMS, beschließe ich.
„Hallo Hanna, wie lange soll Olga eigentlich bei mir bleiben? Hast du bereits einen neuen Kühlschrank in Aussicht? Freundliche Grüße, Jakob aus dem 8. Stock“
Kurz darauf die Antwort: „Hey Jakob, danke nochmals für deine spontane Hilfe! Der neue Kühlschrank ist bestellt. Leider erst in 6 Wochen lieferbar. Ist das okay für dich? Sonst organisiere ich eine Alternative für Olga. VG, H.“
„Okay, das geht schon. Sag einfach Bescheid.“
„Herzlichen Dank! Gib du auch Bescheid, wenn ich Olga früher abholen soll. Dann komme ich vorbei. VLG!“
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Und so kam es, dass ich begann, leise wie nie zuvor meine Kühlschranktür zu öffnen und zu schließen, um meine winterruhende Mitbewohnerin nicht zu stören. Ich verwendete ein Thermometer zur Kontrolle der Kühlschrankinnentemperatur und bestellte Bücher über Schildkröten, in denen ich gerne schmökerte.
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Dann kam das Wochenende, das alles änderte.
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Da ist es wieder! Eben bin ich vom Einkaufen gekommen, und bestimmt zum vierten Mal höre ich diese Geräusche – aus dem Inneren des Kühlschranks.
Ich öffne die Tür und lausche. Stille.
Als ich den Kühlschrank wieder schließen will, höre ich es erneut. Es ist Leben in Olgas Box!
Meine Hand nestelt das Handy aus der Tasche. „Ich rufe hoffentlich nicht ungelegen an, Hanna, doch ich höre, dass Olga sich bewegt.“ „Hallo Jakob! Gut, dass du dich meldest. Wenn es passt, komme ich kurz vorbei und gucke nach ihr. Ist das okay?“ „Ja, in Ordnung.“
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Hanna stellt die Box auf den Tisch und macht sich ein Bild. Ich gucke über ihre Schulter und sehe Olga friedlich schlummern bzw. „starren“, wie Hanna es ausdrückt. „Also, während ich jetzt gucke, hat sie sich nicht bewegt und macht einen guten Eindruck auf mich.“ Hanna schließt die Box wieder. „Es kann aber gut sein, dass Olga sich bewegt hat – vielleicht noch bewegen wird – einfach für einen Positionswechsel. Die Winterruhe dauert ja länger, da bettet sich Olga eventuell mal anders.“ „Ach, echt?“ Hanna nickt und trägt die Box zurück. „Doch wir sollten es im Auge behalten“, sagt sie. „Nicht, dass sie vorzeitig aus der Starre erwacht.“ Ich halte die Kühlschranktür auf, Hanna schiebt Olga an ihren Platz. „Du hast echt was gut bei mir. Danke, dass sie bei dir sein darf!“ „Sehr gerne!“
An der Tür frage ich: „Wie bist du eigentlich zu Olga gekommen, und wie lange hast du sie?“ Hanna lächelt.
„Meine Oma hat mir Olga zum 18. Geburtstag geschenkt. Sie wusste, dass ich mir, seit ich ungefähr acht Jahre alt war, eine Schildkröte gewünscht habe. Meine Eltern waren nie dafür, aber mit 18, fand meine Oma, sei das meine Angelegenheit.“ Wir lachen.
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„Heute schlafe ich auf der Couch!“ In meiner Wohnküche steht die Couch keine drei Meter Luftlinie entfernt von der Küchenzeile. So kriege ich eher mit, wenn sich im Kühlschrank etwas tun sollte.
Ich zappe durch die Fernsehsender, schalte die Flimmerkiste aus und lese noch etwas über Olgas Verwandte:
„Schildkröten gehören zu den wenigen Tieren, die sich durch das Sehen Menschen merken und sie voneinander unterscheiden können“, steht da. Die Grüne Meeresschildkröte werde manchmal erst mit 50 Jahren geschlechtsreif, behauptet mein Buch. „Ist sie dann mit 45 Jahren noch in der Pubertät? Herrje!“ Und: „Sie kann bei Tauchgängen ihre Herzfrequenz bis auf wenige Schläge pro Stunde senken und so bis zu fünf Stunden unter Wasser bleiben.“ Unglaublich!
Auch meine Herzfrequenz verlangsamt sich. Morgen kann ich ausschlafen. Meine Augenlider werden schwer, schwerer – und fahren herunter wie Jalousien.
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„Hallo!“, sagte die Schildkröte in meinem Wohnzimmer. Warum war Olga nicht mehr in ihrer Box im Kühlschrank?
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„Hallo!“, wiederholt die Schildkröte. Ich höre sie und schlafe dennoch zu tief, um zu reagieren. „Hallo?“ Ihre Stimme klingt sanft, liebevoll und fast ein bisschen sexy. Ich öffne die Augen und blicke in ihre. Das Gesicht ist kaum mehr grün – Ach, du Schreck! – ganz blass und eher rosig. „Olga!“, rufe ich voller Sorge und sehe rosafarbene Stirnfalten. „Olga?“ Meine Freundin stoppt abrupt in ihrer Bewegung. „Eva?“, fällt es mir wie Schildkrötenschuppen von den Augen. Meine Freundin hatte sich zu mir gebeugt, wollte mich wohl küssen.
„Ich bin zurück aus Chicago.“
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Es dauert einen Moment, bis ich mich berappele. „Wie schön! Willkommen zurück, Schatz!“
„Olga?“, fragt Eva erneut. „Hast du mir was zu berichten?“ Ich reibe mir die Augen. „Habe geträumt.“ „Und seit wann schläfst du auf der Couch?“ „Seit gestern.“ Eva guckt irritiert. „Was möchtest du frühstücken?“, fragt sie und läuft los zum Kühlschrank…
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Am nächsten Donnerstag.
DINGELDIDINGELDIDINGEL!
„Ach, hallo Hanna!“ „Hi, ich wollte Olga abholen. Auch, bevor du Ärger mit deiner Freundin bekommst.“ Hanna grinst. „Oh, ähm.“ Ich reibe mir die Stirn. Hannas Miene wird ernster. „Ist etwas mit Olga?“ „Nein, nein“, antworte ich. „Mit Olga ist alles in Ordnung.“ Hanna scheint zu spüren, dass das nur ein Teil der Wahrheit ist. „Alles okay?“ „Ja, ja.“ Wir schweigen. Ich bedeute ihr, einzutreten.
„Meine Freundin hat sich getrennt“, höre ich mich sagen. „Ach, herrje. Das tut mir leid!“ Hanna steht in meiner Küche und wirkt aufrichtig bestürzt. „Es war hoffentlich nicht wegen Olga, oder?“ Ich puste einmal tief durch. „Oh nein! Aber, wenn du Bescheid gegeben hättest, hätte ich sie doch sofort abgeholt!“ „Weiß ich, danke.“ Ich nicke und winke ab. „Meine Freundin ist früher als geplant nach Hause gekommen. Wollte mich überraschen.“ „Oh.“ „Möchtest du dich kurz setzen?“ Ich biete Hanna einen Stuhl an. Sie setzt sich und guckt mich mit ihren großen blauen Augen an. Wie selbstverständlich erzähle ich: „Eva ist zum Kühlschrank gegangen, um uns Frühstück zu machen. Und dann kam eines zum anderen.“ Der Kompressor des Kühlschranks springt an.
„Ich fühle mich irgendwie schuldig.“ Hanna knibbelt an ihren Fingernägeln. „Nein, nein.“ Ich schüttele den Kopf. „Das Beherbergen einer ruhenden Schildkröte – eines so sympathischen, kleinen Geschöpfes – hat das Fass höchstens zum Überlaufen gebracht. Nur deshalb trennt man sich nicht von seinem langjährigen Partner.“ „Trotzdem. Das tut mir echt leid!“ Der Kompressor verstummt.
„Wann erwacht Olga eigentlich aus ihrer Winterruhe? Und fehlt sie dir nicht ein bisschen im Winter?“, möchte ich wissen. Hanna blickt auf und erzählt.
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Vier Jahre später, zwei Etagen tiefer vorne rechts.
„Soll ich den Kleinen übernehmen?“ Jakob streckt die Hände aus. Zappelnde Beinchen und das dazugehörige kleine Wesen namens Anton wandern zu ihm auf den Arm. „Gerne!“ Hanna krempelt sich die Ärmel hoch. „Dann gebe ich Olga und Hannes etwas Feldsalat.“ „Oh, da begleiten wir zwei dich gerne.“
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Schildkrötenmann Hannes schläft. Olga lugt aus ihrem Panzer und macht sich über den Feldsalat her. Vor ihr stehen Hanna und Jakob und lächeln sich an. Sie küssen sich. Und Anton gluckst zufrieden.
(V2; 9.735 Zeichen inklusive Leerzeichen)