Von Nils Dürr
„WALTER. WIR. MÜSSEN. LOS!“ Meine Mutter ruft bestimmt schon zum zwanzigsten Mal nach meinem Vater. Mittlerweile hat ihre Stimme einen mehr als leicht genervten Unterton angenommen. Sie wippt auch verärgert mit dem Fuß. Die Vene an ihrem Hals sieht gefährlich geschwollen aus.
Doch Papa ist im Keller verschwunden. Man hört ihn in seiner Bastelwerkstatt rumoren. Er antwortet etwas Unverständliches. So ist er halt. Immer etwas langsam. In letzter Zeit war er oft im Keller. Ob das was mit mir zu tun hat?
Endlich taucht er mit einem der beiden Umzugskartons aus dem Keller auf, die dort mit meinem wichtigsten Zeugs auf meinen Studienanfang warten. Oder eher die mit mir dieses Haus verlassen werden. Für immer! Für immer? Naja, ganz sicher bin ich mir da noch nicht.
Mama und Papa haben mir aufgedrängt, mich bei meinem Auszug zu unterstützen und mich zu meinem ersten Wohnheim zu fahren. Als Nesthäkchen scheinen sie an mir zu hängen. Oder sie wollen sichergehen, dass ich endlich weg bin? Zuletzt haben mich die beiden schon etwas genervt. Allen haben sie erzählt, dass ihre Kleine jetzt eine Studentin sein wird. Egal, ob die Leute es hören wollten, oder nicht.
Ist zwar irgendwie uncool, von den Eltern gebracht zu werden, aber immerhin ist die sechsstündige Fahrt so natürlich mega viel bequemer und mein Kram ist auch einfacher transportiert.
„Wir bringen jetzt unsere große kleine Studentin weg“, ruft Mama Krauses von gegenüber zu, als wir das Haus verlassen. Echt? Mal wieder oberpeinlich. Aber was soll ich machen?
Frau Krause winkt zum Abschied. Nicht, dass sie und ihr Mann nicht beide gestern dagewesen sind und mir alles Gute für den Studienstart gewünscht haben.
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Während der Fahrt sitze ich hinten. Habe es abgelehnt, vorne zu sitzen. Hier kann ich besser MEINE Musik hören. Mama singt bei ihrem Kram immer mit. Voll anstrengend. Ich glaube, Papa geht das auch auf die Nerven. Aber er sagt nichts dazu. Hat wohl in 25 Ehejahren gelernt, wann man besser nichts zu Mama sagt. LOL.
Irgendwann bin ich dann eingeschlafen. Hatte vor Aufregung vergangene Nacht kaum geschlafen.
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Kennt ihr das, wenn etwas so lange her ist, ihr also noch richtig klein gewesen seid, als es passiert ist, dass ihr euch mehr an ein Gefühl erinnert als an ein Ereignis?
Auf der Fahrt hatte ich ein Erlebnis, wo mir so ein Gefühl in Erinnerung gekommen ist.
Was ich noch von damals weiß, ist, dass ich in unser Wohnzimmer kam und da stand eine Schildkröte. Also zumindest in meiner Erinnerung war es eine Schildkröte, aber wie gesagt, Gefühle sind hier stärker als Bilder hängen geblieben. Diese Schildkröte jedenfalls sagte „Hallo“ zu mir. Zumindest denke ich, dass sie mich gemeint hat, da sonst niemand im Raum war.
Ich weiß noch, dass ich ihr den Namen „Hugo“ gegeben habe, keine Ahnung mehr, warum. Und sie hat mir geholfen sauberzumachen, wenn ich etwas dreckig gemacht habe.
Manchmal hatte ich sogar absichtlich ein Tröpfchen Pippi auf den Boden gemacht, nur damit Hugo kommen würde, um es wegzuwischen.
Hugo war mein bester Freund. Leider habe ich vergessen, was aus ihm geworden ist. Ich weiß nicht mal mehr, ob er wirklich existierte.
Ich habe jedenfalls nur glückliche Erinnerungen an Hugo bzw. ein warmes Gefühl, wenn ich mich an den Traum erinnere.
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„Wir sind da,“ verkündet Papa. Jetzt ist es also soweit. Mein Abenteuer mit der Uni fängt an. Auf einmal habe ich doch etwas Angst. Hier soll ich alleine klarkommen? Schon jetzt fühle ich mich verlassen. Warum musste ich auch unbedingt ein Studienfach wählen, für dass man durch die halbe Republik gurken muss, um hinzukommen.
Mama und Papa helfen noch, die zwei Reisetaschen und die zwei Umzugskartons in mein Zimmer im Wohnheim zu bringen.
Dieser winzige Raum mit Bett, Schreibtisch und Duschklo wird ab jetzt also mein neues Zuhause sein? Echt jetzt?
Ich muss ein paar Tränen runterschlucken, als ich mich von Mama und Papa verabschiede.
„Ruf mich an, Schatz, wenn du mal reden möchtest“, flüstert Mama, als sie mich viel zu lange umarmt. Eigentlich ist es vielleicht doch nicht zu lange. Ach, ich weiß nicht.
Nachdem Papa seine Nase geputzt und irgendetwas von seiner angeblichen Hausstauballergie gemurmelt hat, deutet er nur auf einen der beiden Umzugskartons und sagt etwas verlegen: „Da ist eine Box drin. In der ist eine kleine Überraschung für dich. Wenn du dich mal mies fühlen solltest, dann pack sie aus. Ich wette, du wirst dich freuen!“
Der kritische Blick, den Mama ihm dabei zuwirft, entgeht mir nicht. Naja, Papa ist nicht so gut mit Gefühlen. Bin gespannt, was drin ist. Werde ich mir aber aufheben für später. Ist bestimmt was total Komisches aus seinem Bastelkeller. Wahrscheinlich der Grund, warum er da in letzter Zeit so oft unten war.
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Was für ein Scheißtag. Warum hat mir niemand gesagt, dass Studieren so bescheuert ist? Nur so Möchtegern-Intellektuelle, die entweder ein Einserabitur haben, aber nicht sozial kompatibel sind, oder Freaks, die alles können, nur nicht anderen das Gefühl zu geben, auch etwas zu wissen. Ach ja, die Macho-Fraktion mit den Sprüchen: „Willst du mal meine Muckis fühlen“ gibt es auch noch. Und die Barbie-
Püppchen, die einen gewaltfreien Maté-Tee trinken bzw. fair getradeten Kaffee mit Mandelmilch, die den neuesten Klatsch von TikTok kennen, aber keine Ahnung von dem haben, was sie hier studieren.
Jetzt bin ich schon drei Tage hier und hasse es jetzt schon. Kann doch nicht wahr sein. Warum konnte ich nicht was Normales auswählen als Studienfach. Dann hätte ich bei meinen Freunden zuhause bleiben können. Die sind wenigstens normal, so wie ich halt.
Frustriert schmeiße ich mich auf mein Bett. Mein Blick wandert durch das Zimmer. Was mache ich nur hier? Tränen laufen über mein Gesicht. Ich schmecke sie salzig von meiner Nasenspitze auf meine Lippen tropfen. Zum Glück bekommt niemand mit, wie bei mir hier gerade die Sprinkleranlage angeht. Das wäre so krass peinlich!
Da fällt mein Blick auf den Karton, auf den Papa gezeigt hatte.
Wann, wenn nicht jetzt, sollte ich reinschauen?
Vorsichtig hole ich die Box raus. Als ich sie öffne, trifft mich fast der Schlag.
„Dein Ernst? Echt jetzt?“ Hätte nie gedacht, hier vor Wut laut herumzuschimpfen.
Warum in aller Welt hat er mir einen Saug-/Wischroboter eingepackt? Wie alt ist das Teil überhaupt? In der Box steckt sogar noch irgendein Lumpen, damit dass doofe Ding nicht in der Box hin und her rutschen kann.
Wie ist Papa nur auf die Idee gekommen, dass mir DAS helfen kann?
Zorn, Wut, Trauer, Selbstmitleid scheinen mich zu überfluten. Ich bin echt mega frustriert. Was hat ER sich dabei gedacht? Warum macht er DAS?
Da fällt mir ein Zettel auf, den ich vorher nicht entdeckt hatte. Hat Papa, dieser Witzbold etwa noch irgendeinen dummen Spruch aufgeschrieben?
Eigentlich will ich das gar nicht lesen. Mache ich auch nicht.
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Ich muss dann wohl irgendwann eingeschlafen sein. Wahrscheinlich habe ich mich in den Schlaf geweint.
Mist. Als ich in mein Zimmer gekommen bin, habe ich viel Dreck verteilt, den ich unter den Schuhen hatte. Jetzt ist der Fußboden voller getrockneter Erde und Dreckklümpchen. Naja, wenigsten hab ich jetzt in meinem winzigen Zimmer einen Saug-/Wischroboter. Haha, wie toll. Augen verdreh.
Als ich den ‚On-Knopf‘ drücke, sagt das Gerät: „Hallo“. Woher kenne ich diese Stimme? Dann überwältigt mich meine Erinnerung. Das kann nicht sein. „Hugo,“ flüstere ich, während der Saug-/Wischroboter anfängt, im Zimmer auf- und abzufahren und meinen Dreck aufzusaugen. Ich fühle eine Wärme in mir aufsteigen, die so alt zu sein scheint wie das Leben selber. Sie fühlt sich gut an. Irgendwie fühle ich mich geborgen.
Ich schaue in die Box und jetzt begreife ich, was das ist, was ich für einen Lumpen gehalten habe. Der Stoff, den ich in den Hände halte, ist schon recht alt und wirkt etwas abgenutzt. Aber ich erkenne das Muster, das aussieht wie ein Schildkrötenpanzer.
Ob er passt? Tatsächlich. Der flauschige Bezug lässt sich mit nur wenig Mühe über den Saug-/Wischroboter ziehen.
Eine Flut von wundervollen Eindrücken überschwemmt mich. Ich habe Hugo wieder. Niemals wäre mir der Gedanke gekommen, dass ich als kleines Mädchen ein technisches Gerät für eine Schildkröte gehalten habe. Ich weiß nicht einmal, ob Mama oder Papa den Bezug genäht hat, der aus der Haushaltshilfe ein geliebtes Kinderspielzeug gemacht hat. Das warme Gefühl durchflutet meinen Körper immer noch. Ich merke, wie ich mich entspanne. Mit einer solchen Unterstützung hatte ich nicht gerechnet.
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Ach ja, auf dem Zettel von Papa stand: Liebe Lena, ich bin schlecht darin, Gefühle zu zeigen. Noch schlechter bin ich, wenn ich Abschied nehmen soll. Weißt du noch, als du mit Hugo gespielt hast, als du ein kleines Mädchen warst? Ich habe Hugo wiedergefunden und generalüberholt. Vielleicht ist er Dir eine Hilfe. Auch wenn ich es nicht oft gesagt habe, ICH HABE DICH LIEB.
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WhatsApp an Papa:
DANKE PAPA. HUGO IST EINE GROSSE HILFE.
ICH HAB DICH AUCH LIEB.
LENA.
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