Von Ingo Pietsch

Ich erinnere mich noch gut an den April 1982.

Das Wohnzimmer meiner Zwei-Zimmer-Wohnung war vollgestopft mit Actionfiguren, Videokassetten und Comics.

Ich daddelte auf dem Fernseher Decathlon auf meinem Atari 2600. Vom Joystick-Herumreißen taten mir schon die Hände weh.

Vor mir auf dem Tisch standen eine Cola und eine nicht mehr ganz frische Pizza aus den Tiefen meines Kühlschranks, der mal wieder gereinigt hätte werden müssen.

Irgendwie schmeckten die Artischocken auch nicht mehr so recht und ich musste ständig aufstoßen.

Es war schon spätabends und hatte ich keine Lust mehr zum Spielen. Also schob ich eine Videokassette in den Spieler und machte es mir weiter auf dem Sofa bequem.

Mein Bauch grummelte und ich bekam leichte Kopfschmerzen.

Ich weiß  nicht mehr, was ich mir ausgeliehen hatte, ich glaube es war Star Wars, aber das nahm ich nur vage wahr.

Ich döste vor mich hin, als es plötzlich an der Tür klingelte.

Umständlich kämpfte ich mich hoch und versuchte, nicht in den Flur zu kotzen. Wankend kam ich an der Tür an und spürte, wie mir der Schweiß von der Stirn rann.

Hoffentlich war es etwas Wichtiges, wenn ich mir schon in meinem Zustand solche Mühe machte.

Ich lugte durch den Türspion in den langen Flur – aber da war niemand.

Achselzuckend öffnete ich die Tür trotzdem. Vielleicht hatte ja jemand etwas für mich auf die Fußmatte gestellt.

Bevor ich nach unten schauen konnte, fühlte ich einen Windhauch an meiner Jogginghose und etwas Dunkles rauschte an mir vorbei.

Hoffentlich war es keine Katze oder ein Hund. Ich mochte keine Haustiere. Überall Haare. Widerlich.

Ich ließ die Tür noch offen, damit das Vieh wieder heraus rennen konnte.

Vorsichtig schlich ich in meine Wohnküche und blickte auf den Tisch im Wohnzimmer, an dem das Tier aufrecht auf zwei Beinen stand: Es war ein Waschbär! Auf den ersten Blick jedenfalls. Es sah mit dem matten Fell und den fehlenden Haarbüscheln sehr ausgemergelt aus.

Ich ergriff eine Bratpfanne und schlich mich an. Wie mit einem Tennisschläger wollte ich den Waschbären aus meiner Wohnung vertreiben.

Mich überkam wieder ein leichter Schwindel, aber das Adrenalin in mir schob ihn beiseite.

Der Waschbär aß von der Pizza und sie schien ihm zu schmecken, so wie er schmatzte. Er schlang sie förmlich hinunter, als hätte er seit Ewigkeiten nichts mehr gefressen. Dann nahm er einen Schluck von meiner Cola. Er schüttelte sich, als er das kohlensäurehaltige Getränke trank und rülpste anschließend.

Ich war jetzt ganz nah an ihm dran und holte weit aus, als er sich umdrehte, aus müden Augen ansah und „Hallo!“ sagte.

Ich ließ die Pfanne polternd zu Boden fallen und setzte mich auf meinen Hosenboden.

Das war mir neu, denn Waschbären konnten nicht sprechen. Oder ich halluzinierte.

„Es tut mir leid, dass ich hier einfach so eingedrungen bin, aber ich wusste nicht, wo ich hin sollte“, entschuldigte er sich mit krächzender Stimme.

„Husch!“, machte ich als Antwort einfach nur und wedelte mit den Händen.

„Ja, die Reaktion habe ich erwartet“, der Waschbär schüttelte den Kopf.

Draußen waren Hubschraubergeräusche zu hören.

Der Waschbär sah sich panisch nach allen Seiten um: „Du musst mir helfen, sonst finden sie mich!“

„Äh“, mehr brachte ich nicht hervor.

Der Waschbär jagte wieder wie eine Rakete vorbei und schloss die Wohnungstür.

Ich beschloss, ihn deswegen Rocket zu nennen.

Rocket warf die Kissen vom Sofa herunter und suchte ein Versteck. Dann hechtete er zu den Küchenschränken.

„Hör zu, wir haben nicht viel Zeit. Dann stecken sie mich wieder in ein Labor und machen schreckliche Experimente mit mir“. Er schob an seinem Arm ein Stück Fell zur Seite und zeigte mir eine Art Anschluss, der dort eingelassen war.

Ich bekam Gänsehaut. Das arme Geschöpf!

„Ok“, kam ich wieder zur Besinnung, die Schmerzen in der Magengegend fast verflogen. „Ab in den Kleiderschrank.“

„Gute Idee!“ 

Ich stopfte ihn zwischen Schuhe und Anzugshose. Unter der Hängeleiste war genug Platz.

Dann setzte ich mich aufs Bett und redete mit Rocket durch die halb zugezogene Tür.

„Wo kommst du her?“, wollte ich wissen.

„Aus einem alten Fabrikgebäude hier in der Nähe. Ich konnte abhauen, als einer der Wärter nicht aufgepasst hat. Meine Freunde musste ich zurücklassen. Ich bin ins nächstbeste Gebäude und hab dann so ziemlich überall geklingelt, aber nur du hast aufgemacht. Ich hoffe sie kriegen mich nicht.“ Es lag ein Zittern in seiner Stimme. „Ich würde auch bis zum letzten Atemzug kämpfen. Aber ich habe einfach keine Kraft mehr.“

„Das verstehe ich. Hast du einen Namen?“, fragte ich.

„Nein, nur eine Nummer. Ziemlich lang. Musst du dir nicht merken.“

„Ich nenne dich Rocket, weil du so schnell an mir vorbei gerast bist.“

„Das klingt echt gut. So nett ist noch nie jemand zu mir oder meinen Freunden gewesen.“ Rocket klang sehr traurig.

„Tja, ich hab nicht viele Freunde“, ich kratzte meinen dicken Bauch, der auch ein Grund dafür war, dass mein Bekanntenkreis nicht sonderlich groß war. „Das ist dann wohl Schicksal.“

Es klingelte wieder an der Tür.

„Jetzt sind sie da!“, flüsterte Rocket. „Geh nicht! Halt die Luft an und beweg dich nicht! Dann können sie uns nicht finden!“

Es wäre schön gewesen, wenn es geklappt hätte, aber knapp eine Minute später stand ein Typ, mit dunklem Anzug und Sonnenbrille in meinem Schlafzimmer.

Er hielt eine Art Fernbedienung in der Hand, die immer lauter piepste, je näher er dem Schlafzimmerschrank kam.

Ich wollte aufstehen und ihn daran hindern, weiter zu gehen, aber ein zweiter Mann in voller Kampfausrüstung und gezücktem Sturmgewehr hielt mich mit einer winkenden Geste seiner Waffe zurück.

Der Typ riss die Tür auf, Rocket sprang ihm ins Gesicht und zerkratzte ihm die Wange. „Ihr bringt mich nicht wieder dahin zurück.“, schrie er panisch.

Die Brille fiel zu Boden und der Typ trat darauf, als es sich freikämpfen wollte.

Er drückte einen Knopf auf der Bedienung und Rocket begann unkontrolliert zu zucken und fiel auf den Teppich.

Dann blieb er reglos liegen.

„Einsammeln!“, sagte der Typ im Anzug ärgerlich, aber bestimmt.

Ein zweiter Soldat kam mit einem Käfig dazu und verfrachtete Rocket hinein.

Ich wagte es nicht, mich nur einen Millimeter zu  bewegen.

Der Typ hob seine kaputte Sonnenbrille auf und steckte sie in seine Sakkotasche. Dann zückte er eine Neue aus einer Innentasche und setzte sie auf.

Die Soldaten sicherten noch einmal mein Schlafzimmer und zogen sich anschließend zurück.

Der Mann im Anzug hielt ein anderes Gerät in der Hand, das wie ein Stift aussah und betätigte es. Ein Blitz leuchtete auf und er sagte zu mir: „Sie haben einen Film gesehen, sich an der Pizza den Magen verdorben und einfach nur fantasiert.“

Dann saß ich auf meinem Sofa. Im Fernsehen lief immer noch der Film und mein Bauch grummelte wie verrückt.

Ich schaffte es gerade noch ins Badezimmer, ehe ich mich übergab.

Als ich mir den Mund gesäubert hatte, überlegte ich, was genau gerade passiert war. Mein Blick fiel in der Küche auf einen Werbekalender für Aquaristik. Darauf war eine Schildkröte abgebildet mit einer Sprechblase und sie sagte einfach „Hallo!“

Das wär echt cool. Ich sponn einfach weiter. Eine Schildkröte, die in meinem Wohnzimmer steht und mich anspricht. „Hallo!“, so ganz nebensächlich. Oder eine ganze Gruppe, vielleicht drei oder vier Schildkröten, die sprechen können, mutiert sind durch giftigen Müll und so wie Menschen rumlaufen. Und die Pizza liebten, so wie ich.

Ich hatte keine Ahnung, wo die ganzen Ideen herkamen.

 

Ich schickte meine Ausführungen über meine Turtles, wie ich sie nannte, an verschiedene Comicverlage, bekam aber nie eine Antwort. Irgendwie vermischten sich irgendwelche Gedanken mit Erinnerungen, an die ich mich nur noch vage erinnern konnte. Oder hatte ich mir alles nur eingebildet? Ja, das musste es sein. Einbildung, weil ich eine Lebensmittelvergiftung gehabt hatte und eine ganze Woche zu Hause bleiben musste.

Aber dann kam mir wieder Rocket in den Sinn, aber wen interessierte schon ein sprechender Waschbär?

 

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