Von Ingo Althöfer

Guten Tag! Sie sind hier bei Hartmann, dem einzigen deutschen Rauhaardackel mit eigenem Blog. Dies ist der letzte Eintrag vor der langen Sommerpause.

 

Ich lag im Körbchen, als plötzlich eine Schildkröte ins Wohnzimmer kroch: „Hallo“, sagte sie langsam, „ich bin Törtel“. Sofort war ich hellwach: Gab es vielleicht Stoff für den Blog? Bedächtig setzte Törtel fort: „Ich hatte gerade eine anstrengende Begegnung mit einem Papagei, draußen im Garten.“ Ich: „Ach, mit Polly. Die ist nie langweilig. Erzähl mal.“ Törtel breitete dann in aller Ruhe sein Erlebnis mit Polly aus:

 

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Ich kroch langsam den Gartenweg hoch, als mich Polly von oben herab ankrächzte: „Hei,  Törtel! Weißt du, was eine Bordsteinschwalbe ist?“ Das wusste ich nicht. Und als ehrliche Haut erwiderte ich: „Ähm, nein, keine Ahnung. Was ist das denn?“

Polly kicherte „Das ist eine Person, die sich an der Straßenecke aufhält und wartet, bis ein Auto vorbeikommt, um eine Mitfahrgelegenheit zu bekommen.“ Ich runzelte die Stirn und erwiderte: „Das verstehe ich nicht. Warum geht sie nicht einfach zum Bus?“ Polly kreischte vor Lachen und sagte: „Oh Törtel, du bist so naiv! Eine Bordsteinschwalbe fährt nicht mit dem Bus, sie ist eine Art von … ähm … Informalität. Du weißt schon, so ein Wirtschaftsfaktor.“

Ich sah immer noch verwirrt aus und fragte: „Aber warum nicht einfach ein Taxi nehmen?“ Polly verdrehte die Augen und sagte: „Weil das zu teuer ist, mein Freund. Bordsteinschwalben gucken schon aufs Geld.“  Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Ich verstehe es immer noch nicht. Ich denke, ich bleibe lieber bei meinem gemütlichen Tempo und krieche hier entlang.“ Polly lachte und sagte: „Das ist in Ordnung, Törtel. Jeder hat seine eigene Art, durchs Leben zu robben.“ 

Und jetzt bin ich bei Dir, lieber Hartmann, um erst mal zu entspannen.

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Ich beruhigte den armen Burschen: „Das machst Du genau richtig, Törtel. Komm erst mal runter vom Teppich und ruh Dich aus.“ Ich spürte, dass das Gespräch mit Polly für Törtel ein Belastung war. So fragte ich ihn: „Was hältst Du von der Idee, aus der Begegnung mit Polly einen Roman zu machen? Schreiben hilft immer.“ Törtel: „Ja, wenn so etwas geht.“ Ich: „Klar, ich schreibe ja auch einen Blog nach dem anderen. Nimm Dir einfach Zeit. Du kannst jeden Tag zu mir kommen, und ich begleite die Entstehung Deiner Geschichte. Wenn Du magst, habe ich auch einen Vorschlag für den Titel.“

Törtel schaute mich treu an: „Das ist so lieb. Wie soll meine Geschichte denn heißen?“ „Die Bordsteinschwalbe!“, schlug ich vor. Törtel war begeistert: „Das ist toll. Vielleicht wird mir beim Schreiben der Geschichte auch klar, was eine Bordsteinschwalbe wirklich ist.“ Das war für den Anfang erst mal genug. 

Am nächsten Morgen saß Törtel wieder auf dem Teppich: „Ich arbeite gerade am ersten Satz. Und das ist nicht ohne. Es ist ja auch so, dass man mit dem ersten Satz den Verleger beeindrucken will. Damit er denkt: ‚Hut ab, meine Herren. So fängt eine tolle Geschichte an.’“ Ich fragte: „Wie lautet denn Dein erster Satz?“ Törtel: „Also, ganz zufrieden bin ich noch nicht. Aber der erste Entwurf geht so: ‚Die Bordsteinschwalbe stieg in den Bus, um zu ihrer Mutter zu fahren.’“

Ich lobte den kleinen Schreiber und sagte, dass ich schon auf seinen zweiten Entwurf gespannt sei. Dies Mal dauerte es drei Tage, bis Törtel wieder bei mir saß. „Hallo Hartmann, hier ist mein zweiter Versuch für den ersten Satz: ‚Die blonde Bordsteinschwalbe stieg in den Bus, um zu ihrer kranken Mutter zu fahren.’“ Wieder lobte ich Törtel, wobei mir der erste Versuch eigentlich besser gefallen hatte. Aber man muss mit Kritik bei Neulingen sehr, sehr vorsichtig sein.

Nach weiteren zwei Tagen kam Törtel erneut: „Hallo, ich habe mir überlegt, dass es vielleicht besser ist, wenn die Protagonistin ein Taxi nimmt. Also: ‚Die blonde Bordsteinschwalbe stieg in ein Taxi, um zu ihrer alt gewordenen Mutter zu fahren.’“ „Sehr interessant“, erwiderte ich nur.

Jetzt dauerte es eine ganze Woche bis zum nächsten Besuch. Dieses Mal rief Törtel schon beim Eintreten: „Hallo! Jetzt habe ich den ultimativen ersten Satz: ‚Die blaue Bordsteinschwalbe stieg in ein schwarzes Taxi, um zu ihrer grau gewordenen Mutter zu eilen.’“

Hoffentlich ließ Törtel seinen ersten Satz bald hinter sich. So setzte ich meine beste Zufriedenheits-Miene auf: „Törtel, Du bist auf einem superguten Weg. Was wird die blaue Bordsteinschwalbe denn bei ihrer Mutter erleben?“ Törtel wurde nachdenklich: „Das weiß ich noch nicht. Ich habe ja so mit dem ersten Satz gekämpft!“

Gerade in diesem Moment kam Polly hereingeflogen. Sie hatte die ganzen Tage gelauscht und krächzte jetzt: „Hi, J.G Törtel“, was sowohl Törtel wie auch ich nicht einordnen konnten. Törtel hatte das Gefühl, gemobbt zu werden, und krabbelte wortlos weg.

Ich aber fragte Polly: „Was meinst Du mit J.G?“ Polly: „J steht für Joseph, und G für Grand. Joseph Grand war eine törtelige Figur in einem Roman von Albert Camus. Byebye.“

 

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