Von Maria Lehner

„Hey, jetzt kommen die Hero-Turtles, superstarke Hero-Turtles.“ Der martialische Action-Song war das Erste, das ich an diesem Morgen wahrnahm. Die uralte Frank-Zander-Nummer lief im Radiowecker. Grässlicher kann ein Tag kaum beginnen: Musik, die nach verrückt gewordenen Eisensägen klingt und mutierte Schildkröten aus der New Yorker Kanalisation besingt!

Spülwasserfarben sickerte Morgenlicht durch die Jalousien. Die Decke hatte sich mir in meiner letzten Alptraumsequenz so um den Hals gewickelt, dass es mich nicht wunderte, vom Würger geträumt zu haben. Gleichzeitig imaginierte ich durch die noch immer laufende Nummer den Geruch, der den Hero-Turtles aus der Kloake entgegenschlug.

Der Teppich schien Wellen zu werfen. Da war ein leichtes Flackern wie eine Glühbirne im Todeskampf. Das kratzende, schürfende Geräusch schien vom Schreibtisch herzukommen. Der Blick zur Uhr, am Schreibtisch vorbei, vermittelte mir den Eindruck, als würde sich meine Computermaus ruckelnd bewegen. Die neue Errungenschaft hatte ich gestern aus dem Versandkarton ausgepackt und spät nachts betriebsbereit gemacht: ein Mauspad, ergonomisch geformt.

Meine Frau hatte das Ding in einem Spezialshop für mich bestellt. Und da lag ja noch der Zettel, den sie mir geschrieben hatte bevor sie weggegangen war.: „Guten Morgen, hab einen angenehmen Tag.“

***

Angenehm…? Da ist in Kürze die Zoom-Sitzung mit Malakowski. Die Vorstellung tönte meine Stimmung eine Nuance dunkler, erhöhte aber gleichzeitig meinen Blutdruck. Worüber ärgerte ich mich? Mehr über die schnöde Art, mit der er das Team steuert, indem er es nicht steuert oder mehr über meine Rolle des Ja-Sagers oder eher des Nicht-Nein-Sagers?

Es würde ablaufen wie immer:

Anna würde die Folgsame mimen, in Unterordnung erstarrt lächeln und im rechten Moment sagen „Normalerweise gern, ihr wisst ja, aber diesmal…“ Dieses „Normalerweise“ hatte es nie gegeben, das „diesmal“ jedoch immer. Warum sprach Malakowski nicht ein Machtwort?

Augustin würde sich aufblähen, als säße er neben dem Chef, müsse ihm ständig die Krone polieren und hätte daher keine Zeit, zu arbeiten. Konnte Malakowski nicht einmal, ein einziges Mal nur, klar und deutlich sagen: „Augustin – ich beauftrage dich mit…“

Helmut würde sein weises Lächeln aufsetzen und mäandern: „Da bin ich halt leider zu wenig vertraut mit der Materie.“ Ich wünschte, Malakowski würde irgendwann antworten: „Dann hast du bis nächste Woche Zeit, dich vertraut zu machen, und übernimmst ab dann.“

Aber: Nein. Er würde letztlich resignieren: „Immer das Gleiche mit euch, nur auf Gerhard kann ich mich verlassen, also: ausgemacht!“ Wieder hätte er einzig für mich eine klare Aussage parat: Aus! Gemacht!

Alle würden freundlich lächeln. Und ich hätte mal wieder nichts gesagt, würde die Arbeit wie immer abkriegen und auch hinkriegen. Aber ich würde weit mehr Energie für den Ärger über mich selbst verbrauchen als für die Arbeit.

***

Im Spiegel übte ich das „Nicht-mit-mir!“-Gesicht. Es sah lächerlich aus. Ich sagte in ruhigem Tonfall: „Ich habe keine freien Kapazitäten“, korrigierte mich dann (weil: Negativbotschaft) und übte einen neutral-freundlichen Gesichtsausdruck: „Nein, aber danke, dass Sie es mir zutrauen.“ Es wirkte nicht glaubwürdig.

Sonderbar sah diese ergonomisch geformte Computermaus aus. Wieso eigentlich Maus? Keine Ohren, kein Schwänzchen. Wer sich den Namen wohl ausgedacht hat? Damals, 1963, als Douglas C. Engelbart die Zeichnung für den Prototyp der Mensch-Maschinen-Schnittstelle angefertigt hatte, war er wohl aufgekommen.

Ich war immer gern gut vorbereitet und konnte, wenn ich früh zugeschaltet war, noch dies oder das korrigieren. Zum Beispiel, wenn ein Taschentuchpäckchen im Bild war: Wie sah das denn aus? Schnupfen ist was für Warmduscher.

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Die Maus fühlte sich gut an. Als ich sie auf dem Mauspad bewegte, erinnerte mich das Geräusch wieder an das Kratzen, das ich vorhin gehört hatte.

„Hallo! Was kann ich für Sie tun?“

Ich erstarrte. Eine Maus, die auf Sprachbefehle reagiert, wäre noch vorstellbar, aber eine, die spricht? Als ich näher hinsah, hatte ich wieder diese Sehstörungen: Als ob sich oben in der Mitte ein Kopf herausstrecken würde, der faltige Hals eine Drehung machte, kleine Äuglein sich mir zuwendeten, ein kleines Mäulchen sich öffnen würde.

„Ich bin Ihr Turtle-Avatar, Ihr Hero-Turtle, ich werde Sie durch die Zoomsitzung führen. Was möchten Sie tun?“

Völlig perplex sagte ich: „Na was schon: Es bald hinter mich bringen und einmal, nur ein einziges Mal aus der Sitzung gehen und mich nicht wie ein Verlierer fühlen.“

„Natürlich“, sagte sie, „das haben Sie immer schon gekonnt, ich darf Sie heute dabei begleiten. Sie können in einem kleinen Textfeld die von mir vorgeschlagenen Äußerungen ablesen wie in einem Teleprompter. Ich könnte zwar auch für Sie mit meiner Stimme sprechen, aber so wird das Gesagte noch besser in Ihrem Gehirn verankert.“

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Noch zwei Minuten bis zur Sitzung. Und ich bin offenbar noch im Tiefschlaf. Mitten in einem skurrilen Traum. Den zweiten Gin-Tonic gestern hätte ich lassen sollen.

„Das ist eine Trainingseinheit, die in ihrer Erinnerung gespeichert wird. Künftig werden Sie selbst immer besser Ihre eigenen Angelegenheiten vertreten können.“

Ich wollte noch schnell fragen, ob ihre Assistenz denn nur für Zoom-Meetings gelte, aber dienstfertig sagte sie: „Ich kann Ihre Gedanken lesen: Nein, ich bin immer an Ihrer Seite, sie können mich in der Jackentasche überallhin mitnehmen und ich werde Sie anleiten; es wird sich wie Ihre innere Stimme anhören. Sie werden mich aber immer seltener brauchen. Denn Sie können es. Schon jetzt.“

Eine Minute noch. Sie fragte „Wollen wir?“ Der Klick, den „wir“ ausführten, öffnete das Zoom-Fenster.

***

Malakowski war schon in seinem Bildkästchen. Es war gleich groß wie die anderen, aber man sah sofort, dass er der Boss war. Er füllte das ganze Bild aus, zurückgelehnt, mit seinen lässig hinter dem Kopf verschränkten Armen, ganz im Gegensatz zu mir, der kleinen unscharfen Randfigur, die sich an die Kaffeetasse klammerte. Die anderen erschienen nach und nach, eingesperrt in ihre viereckigen Verliese, von denen aus sie aber, wie ich meinte, Macht über mich hatten.

„Lächeln!“ schrieb mir Hero-Turtle als Regieanweisung auf den Bildschirm. „Schultern straffen! Brustkorb öffnen! Breitbeinig sitzen! Mehr Raum einnehmen!“

In den nächsten 30 Minuten erfuhr ich jeweils zur rechten Zeit, was ich tun und lassen sollte – ob ich konzentriert schauen oder entschlossen vor mich hinstarren sollte, und vor allem, was ich sagen sollte.

Mein „Nein!“ kam völlig natürlich und unverkrampft und auch das „Ich habe seit Längerem den Eindruck, ich sollte den Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit bieten, ihre hervorragenden Kenntnisse zu zeigen und mich etwas zurücknehmen, um die letzten Auftragsarbeiten weiter zu optimieren“ klang gefestigt und keineswegs süffisant. Eine klare Ansage.

Anna nickte ratlos und schien ihre Maus hilfesuchend zu umklammern. Augustin sagte unvermittelt „Aber gerne doch!“ (als hätte mein Hero-Turtle aus der Ferne ihm das befohlen). Helmut schluckte und lächelte säuerlich. Malakowski machte es kurz: „Na also, darauf hab´ ich schon lang gewartet. Augustin: du. Nächstes Meeting am Donnerstag.“ Und weg war er.

***

Turtle-Hero und ich unterhielten uns noch etwas. Sie schrieb mir auf den Computer das Rezept für ein verblüffend einfaches Fischgratin. „Das macht was her!“, sagte sie. Und als ich sie bang danach fragte, ob sie denn demnächst in die Winterstarre fallen würde, wie die Schildkröten das so machen, sagte sie stolz: „Bitte?! Ich bin eine Vier-Punkt-Null!“, was immer das auch bedeuten mochte…

Ich sagte ihr aber auch, dass ich eigentlich gegen Tierhaltung und gegen Versklavung von Lebewesen sei und sie, wenn sie wirklich eine Schildkröte wäre, lieber in die Freiheit entlassen würde. Sie grinste mich an.

„Meine Freiheit definiere ich und organisiere ich mir schon selbst, ich bin schließlich eine Vier-Punkt-Null. Jetzt bin ich auf Hero-Turtle-Mission. Zum Zeitpunkt, an dem Sie mich nicht mehr brauchen, sehen wir weiter.“

***

Als meine Frau heimkam, nahm ich das Fischgratin aus dem Ofen und dekantierte den Wein.

„Taugt das Maus-Ding was?“ fragte sie ganz nebenbei. „Ich traf vor ein paar Monaten zufällig deine Kollegin Anna, als sie sich in einem Laden eine Hero-Turtle besorgte – sie war ganz verschämt und tat es als „Kinderkram“ ab. Mir gefiel die Maus aber, darum habe ich dir auch so eine bestellt. Aber mittlerweile gibt es die Vier-Punkt-Null, die neueste, bei der ist die Mensch-Maschinen-Verbindung unübertroffen, heißt es im Internetforum.“

Ich nickte bestätigend, schloss meine Frau in den Arm und sagte: „Sie ist unübertroffen. Und einen Winterschlaf braucht sie auch nicht.“

Sie zog die Stirne kraus und lächelte dann: „Maus mit Winterschlaf? War ein anstrengender Tag, was? Aber jetzt lass uns einen schönen Abend haben!“

Version 3