von Martin Fiß

Es war still auf der Sonderbarstraße. Um diese Zeit hatten sich die meisten Bewohner bereits in ihre Wohnungen zurückgezogen, bereiteten das Abendessen vor oder ließen auf unterschiedlichste Weise den Tag ausklingen. Stefanie beschleunigte ihren Schritt, um sich noch vor dem hereinbrechenden Regen, der sich schon mit vielen dunklen Wolken ankündigte, im Haus Nr. 8 in Sicherheit zu bringen. Die Wohnung lag im zweiten Stock. Da der Aufzug wieder einmal defekt war, nahm sie die Treppe.

Früher hat sie immer die Treppe genommen.
Sie erinnerte sich an ihre Kindheit und den Spaß, den sie mit ihren Geschwistern und den Nachbarskindern hatte. Das war lange her. Jetzt wohnten hier nur noch alte Leute. Verbitterte, seltsame alte Leute.
Sie klingelte an der Wohnungstür, obgleich sie auch den Schlüssel hätte benutzen können.
Schon nach wenigen Sekunden öffnete Ruth die Tür. Stefanies Besuch kam nicht überraschend. Zumindest heute nicht.
„Da bist du ja endlich, mein Kind. Warte schon seit fünf Minuten hier im Flur.“
„Mama, es ist erst kurz nach sieben. Sonst komme ich doch immer erst gegen halb acht.“
Ohne zu antworten, schlich Ruth, den Rollator vor sich herschiebend, vom Flur ins Wohnzimmer.
Die Fenster waren geschlossen und im ganzen Raum machte sich die abgestandene Luft unangenehm bemerkbar. „Ich öffne mal kurz das Fenster, Mama. Das riecht hier ja wie bei alten Leuten.“
Ruth schmunzelte. „Ich bin alt, Stefanie. Außerdem wird es dann immer so kalt hier drin.“
„Wir haben immer noch über 20°C draußen, Mama! Trotz des Regens.“
„Ach ja. Willi mag den Regen. Er ist bestimmt wieder mit seinem Stockschirm im Park.“
„Mama, der Papa ist doch schon seit sieben Jahren tot.“
„Ach Kind, was du wieder erzählst. Willi ist nicht tot. Er lebt nur nicht mehr.“

Stefanie streichelte sanft die rechte Hand ihrer Mutter und fühlte sich unfähig, auf das Gesagte zu reagieren.
„Ich gehe dann mal in die Küche und spüle das Geschirr weg.“

„Sie gehen nicht in meine Küche! Was erlauben Sie sich? Wer sind Sie überhaupt, wie sind Sie hier hereingekommen?“ Ruths Angst und Unsicherheit spiegelte sich in ihren panisch aufgerissenen Augen wider. Hektisch bewegte sie sich hin und her, so dass der Rollator in Schieflage geriet und sie zu stürzen drohte.
„Mama, beruhige dich. Ich bin es doch. Stefanie.“
„Stefanie? Ich lass‘ mich doch nicht für dumm verkaufen! Stefanie ist in Mainz, Erdbeeren pflücken.“

„Mama!“ Stefanie fasste ihre Mutter an beide Arme, hielt sie fest und sah ihr frontal ins Gesicht.
„Ich bin es. Deine Tochter. Alles ist gut. Beruhige dich bitte.“
Während Stefanie mit den Tränen kämpfte, entspannte sich Ruth allmählich und ließ sich auf den Sessel vor dem Fenster nieder.
„Willi mag den Regen.“
„Ja, Mama.“
„Frau Woltascheck ist jetzt ins Pflegeheim gezogen. Die kam nicht mehr alleine klar.“
„Vielleicht sollten wir auch mal darüber nachdenken,…“
„Auf keinen Fall, Stefanie!“, fiel ihr Ruth ins Wort. „Ich komme noch gut alleine klar und außerdem kommst du mich doch jeden Tag kontrollieren.“
„Ich kontrolliere dich nicht, ich schaue nur nach dir, ob es dir gut geht!“
„Ja.“
Stefanie nahm auf dem Sofa Platz und ordnete schweigend die verstreut auf dem Wohnzimmertisch liegenden Dinge.

„Hallo! Ich hatte dich schon vermisst.“
„Mama? Mit wem sprichst du?“
„Mit Amanda. Sie kommt öfter vorbei, um Hallo zu sagen.“
„Hier ist niemand außer uns, Mama!“

Ruth schmunzelte wieder. „Stefanie, ich bin zwar alt, aber nicht blöd. Da unten, zu meinen Füßen ist sie. Du musst sie doch sehen!“
„Wer ist da denn, Mama?“
„A- man- da! Die Schildkröte.“

Stefanie war sich zwar absolut sicher, dort auf dem Boden keine Schildkröte vorfinden zu können, dennoch tat sie so, als ob sie danach suchen würde.
„Da ist sie doch! Guck mal, sie schaut dich direkt an!“
„Ja, Mama. Eine wirklich hübsche Schildkröte. Jetzt sehe ich sie auch“, log Stefanie und Ruth lächelte zufrieden.

„Ich bin müde und möchte ins Bett. Liest du mir noch eine Geschichte vor, Mutti?“
Stefanie schluckte. Die Aussetzer ihrer Mutter nahmen stetig zu. Es war wirklich an der Zeit, über einen Heimplatz und eine damit verbundene Rund-um-die-Uhr-Betreuung nachzudenken. Situationen wie diese zerrten an ihrer Seele. Ruth war immer öfter in ihrer vergangenen und seltsamen Welt. „Ja, selbstverständlich.“

Als Ruth eingeschlafen war, verließ Stefanie das Haus und kehrte zu Ihrer eigenen, kleinen Familie, die drei Straßen weiter wohnte, zurück.
„Alles gut bei deiner Mutter?“, fragte Manfred, Stefanies Ehemann.
„Tja, ich weiß nicht so recht. Schläft Nele schon?“
„Ja, schon seit einer Stunde. Aber beim nächsten Mal möchte sie wieder mitgehen zu‘ Oma Lustig‘.“
„Lustig ist das nun wirklich nicht. Eher traurig. Aber Nele ist erst vier und meine Mutter wird es ihr sicher nicht krummnehmen.“

2 Jahre später

„Oma Lustig ist doch jetzt bei Opa Willi, oder?“
„Ja, Nele. Aber du sollst nicht immer Oma Lustig sagen.“
„Gibt es im Himmel auch einen Park?“
„Ich glaube schon. Da gibt es wahrscheinlich alles, was man sich so wünscht.“
„Gut.“
„Warum?“
„Na, weil es regnet. Dann kann der Opa Willi doch zusammen mit Oma Lus.., ähh Ruth durch den Park gehen. Opa Willi mag den Regen.“
„Das stimmt. Bestimmt spazieren sie jetzt gemeinsam durch den Park.“
Stefanie küsste ihre kleine Tochter auf die Stirn und streichelte ihr über den Kopf.
„Jetzt ist aber Schlafenszeit, kleine Maus.“
„Mama, liest du mir denn noch eine Geschichte vor?“

„Sicher, mein Schatz. Aber zuerst muss ich noch Amanda füttern.“

 

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