Von Helga Rougui

 

 

Einen Fuß vor den anderen. Vorsichtig. Ungelenk. Ungewohnt.

 

Sie hatte keine Wahl gehabt. Der Weg, den sie hatte einschlagen müssen, bot keinen Baum, keinerlei Geäst, an dem entlang ihre kräftigen Arme sie hätten entlangtragen können.

Es war der einzige Weg, der zum See führte, in dem vielleicht noch etwas Nässe war. Zwar würde es bald Wasserwetter von oben aus den entfernt aufziehenden Wolken geben, das fühlte sie in jedem ihrer 207 Knochen. Aber es ließ sich Zeit, und sie konnte nicht warten.

 

Sie hatte Durst. Jetzt.

 

Sie spürte die Dürre, die flirrende Hitze, die Trockenheit auf ihrer Haut. Dunkel und schweißfeucht spannte sie sich über ihrem Bauch. Das dichte Fell auf ihren Schultern schützte sie vor der sengenden Sonne, es war schwer von Schweiß.

 

Weiter. Fuß vor Fuß. Schritt für Schritt. Jetzt, nach der Hälfte des Weges. ging es sich besser. Ihre Knie zitterten nur noch leicht.

 

In der Nacht zuvor war die Horde eng zusammengerückt, trockene Kehllaute standen für Durst, ein Fauchen stand für Angst. Der Weg zum See war weit, es gab Tiere. Die Sterne funkelten am Himmel wie Diamanten, hart und fern, mitleidlos. Gegen Morgen sah sie ihr Junges, so groß wie ein kleines Schimpansenbaby, wie es nach Luft schnappte und dann damit aufhörte, dies zu tun. Sie zog sich hoch, stellte sich auf ihre Beine, das Fauchen um sie herum nahm zu, es kümmerte sie nicht.

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Weiter. Fuß vor Fuß. Schritt für Schritt. Sie konnte das Wasser schon riechen. Die Hoffnung, dass keine gefährlichen Tiere Durst verspürten zur gleichen Zeit wie sie.

 

Plötzlich mehr dunkle Wolken am Himmel, feuchte Gebirge, drohend.

 

Sie stand am Ufer des Sees, als die Schleusen des Himmels sich öffneten und in kürzester Zeit den Fluss, der den See speiste, zu einem reißenden Strom anschwellen sieß.

Plötzlich war das Wasser überall, überall Schlamm und Matsch, es half nicht, dass sie sich auf alle vier Gliedmaßen stützte, sie verlor den Halt und prallte auf die Felsen am Ende der steilen Böschung. Der See empfing sie mit offenen Armen und füllte ihre Lungen mit Wasser.

Ihr letzter Blick ging zum Himmel. Keine Sterne, Dunkelheit.

 

Vor 3,2 Millionen Jahren ertrank in Hadar, Äthiopien, eine junge Frau von 25 Jahren in einem See. Der Schlamm bedeckte ihre Leiche, und so wurde sie von dem kurz danach vorbeiziehenden Rudel Löwen nicht gefunden.