Von Andreas Schröter
Wissen Sie, warum ich nicht mehr gerne in den „Keller“ gehe? Nein, nicht in den Keller in unserem Haus, sondern in unsere Kneipe hier, die „Keller“ heißt, weil man erst ein paar Stufen hinuntergehen muss, um in dieses feuchte Loch zu kommen. Erstens wegen Linda und Minda, eineiige Zwillinge. Nebenbei bemerkt: Wie betrunken muss man bei der Namenswahl gewesen sein, wenn man seine Töchter Linda und Minda nennt? Zumal es den Namen Minda gar nicht gibt. Ich habe mal gehört, dass der Standesbeamte darauf bestanden hat, dass das arme Kind noch einen zweiten eindeutig bekannten Namen erhält. Nur unter mühsam zurückgehaltenem Kichern hat der Vater dann wohl Gustavinchen genannt. Nun ja … ich schweife ab.
Jedenfalls: Ich bin unsterblich verliebt in Linda und Minda-(Gustavinchen). Sie haben blaue Augen wie – na ja, zum Beispiel wie das Meer vor der Insel Santorin – ich war mal da, wirklich unglaublich blau. 3000 Meter tief. Und schwarze Haare wie – Ebenholz? Sie wissen schon …
Problem ist, dass mein Hals austrocknet, wenn die beiden in der Nähe sind und ich keinen vernünftigen Satz mehr herausbekomme. Ich krächze bestenfalls ein „Ja“, „Nein“, „weiß nich …“ Das macht ein locker-flockiges Flirten und Balzen nicht unbedingt einfacher. Aber irgendwann habe ich’s dann doch geschafft, mir folgenden bahnbrechenden Satz gegenüber Linda herauszuschrauben. Natürlich hatte ich den zu Hause vorher dutzendfach vor dem Spiegel geübt. Dass es Linda war, war reiner Zufall. Minda war wohl gerade auf der Toilette. Ich war in beide gleichermaßen verliebt. Also, ich sagte: „Du, äh, also der Beifahrersitz in meinem Ford Taunus …“ – „Was ist damit?“ – „Ja, nun, der wäre noch frei.“ – „Ja und?“ – „Also, ich meine, er wäre noch dauerhaft frei – für Dich.“
Es dauerte eine Weile, bis Linda schnallte, worauf ich hinauswollte. Dann setzte sie zu einer ausgesprochen intellektuellen Rede an, die bestimmt eine Viertelstunde dauerte. Ich streute ein paar Krächzer zwischendurch ein. Sie sprach von Bildern, die ich mir von ihr mache und der Realität, die diesen widerspreche. Von übernatürlichen Gefühlen, die sie nicht durch das schnöde Körperliche kaputtmachen wolle. Später habe ich erfahren, dass Linda zu diesem Zeitpunkt seit einer Woche mit Kurt zusammen war, die beiden sich also gerade in der heißen Phase der ersten Verliebtheit befanden. Schlechtes Timing.
Als Minda von der Toilette zurück war, brachte ich den Taunus-Spruch natürlich bei ihr an. Sie erwiderte barsch: „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass Du das eben auch schon zu meiner Schwester gesagt hast. Ich bin aber nicht zweite Wahl.“ Damit ließ sie mich stehen. Sie war zu diesem Zeitpunkt solo. Verdammtes Pech.
Das also ist der erste Grund, warum ich nicht mehr in den „Keller“ gehe. Ich will meinen Schmerz, dass ich bei den beiden keine Chance habe, nicht vergrößern. Ich muss mir die beiden einfach aus dem Kopf ätzen. Wenn man von Zigaretten loskommen will, reiht man ja auch nicht die vollen Päckchen auf dem Sideboard im Wohnzimmer auf, sodass man sie ständig sieht, oder?
Aber es gibt noch einen zweiten Grund, warum ich nicht mehr gerne in den „Keller“ gehe. Ich kann dieses schrecklich dumme Gelaber nicht ertragen, das immer dümmer wird, je mehr Alkohol geflossen ist. Sie müssen wissen, ich bin im Grunde meines Herzens ein Intellektueller, auch wenn Außenstehende das aus meinen Gesprächen mit Linda und Minda vielleicht nicht immer so herausgehört haben.
Denn mit absolut tödlicher Sicherheit erzählt irgendwann im Laufe eines jeden Abends im „Keller“ irgendein Vollidiot jene Geschichte, in der Linda und Minda die Hauptrolle gespielt haben. Sie geht so: Irgendwann fanden vor dem „Keller“ Bauarbeiten statt. Ich glaube, Glasfaserkabel wurden verlegt. Jedenfalls ließen die Bauarbeiter den kleinen Bagger, den sie dafür brauchten, über Nacht stehen. Und offenbar hatte der Baggerfahrer vergessen, den Schlüssel zum Feierabend abzuziehen. Er steckte im Zündschloss. Linda und Minda, die schon einige Aperol Spritz intus hatten, entdeckten das, quetschten sich beide auf den Fahrersitz und starteten unter lautem Gejohle – auch von den Kerlen, die das beobachteten – den Motor. Ein göttliches Bild, das ich damals in mich aufsaugte, sodass ich es heute immer noch problemlos abrufen kann. Leider. Siehe oben. Es dauerte eine Weile, bis sie mit der Technik klarkamen, aber schließlich gelang es ihnen, den Bagger in Bewegung zu setzen und sogar die Schaufel so auf und ab fahren zu lassen, dass es so aussah, als winke der Bagger den Besoffskis zu, die sich vor dem „Keller“ versammelt hatten. Zu meiner Bestürzung – ich war wohl noch nicht ganz so betrunken wie die anderen – rumpelte der Bagger mit den beiden Miezen an Bord irgendwann auf die Treppe zum „Keller“ zu. Und wiederum irgendwann später – nicht lange – hüpfte er die Stufen hinab und stand irgendwann vor dem Tresen dieses zweifelhaften Etablissements. Als der geistig etwas minderbemittelte Barkeeper Udo dann den Bagger fragte „Ja bitte? Was darf ich Ihnen bringen?“, kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr.
Die ganze Geschichte hat im Nachhinein jede Menge Ärger mit der Baufirma ergeben. Es war nicht ganz einfach, das Fahrzeug wieder aus dem „Keller“ zu bekommen. Treppauf wollte es weniger gut fahren als treppab. Die Firma hat nur deshalb von einer Anzeige abgesehen, weil es ja auch ihr Fehler gewesen war, den Schlüssel stecken zu lassen.
Was mich an der ständigen Wiederholung dieser Geschichte besonders stört, ist, dass irgendein Suffkopp mit absoluter Garantie irgendwann seinen benebelten Kopf vom Tresen hebt und laut und vernehmlich sagt: „Lucy in the Sky with Diamonds“, woraufhin wieder ein Jubel in der Kneipe ausbricht, als werde diese Geschichte zum ersten Mal erzählt. Dazu muss man wissen, dass jemand das Wörtchen „Lucy“ auf den Bagger gesprayt hatte. Wahrscheinlich ein Leidensgenosse von mir, der unglücklich in eine Lucy verliebt war. Hoffentlich war er nicht glücklich in sie verliebt, denn das hätte meinen Neid entfacht. Und den „Keller“ nannten die Stammgäste seit jeher in Verballhornung seines wahren Daseins „Himmel“, oder wenn sie etwas gebildeter und moderner klingen wollten „Sky“ – „Eh, Alter, gehen wir heute Abend noch ins Sky?“ – „Klar.“
Da traf es sich gut, dass Linda und Minda bei dem einzigen Karaoke-Wettbewerb, der jemals im „Keller“ – sorry im „Sky“ – stattgefunden hat, als „Diamonds“ aufgetreten sind und prompt gewonnen haben – mit dem ausgesprochen tiefsinnigen Song „Marmor, Stein und Eisen bricht – aber unsere Liebe nicht“ übrigens.
Nein, ich möchte diese Art von Leben nicht mehr führen. Ich habe kürzlich wieder ein Studium begonnen. Philosophie. Ich befasse mich gerade mit der Liebe. Gerade habe ich gelesen, die Liebe sei ein transzendentes Band, das sich über Raum und Zeit erstreckt und zwei Seelen in einem Zustand der harmonischen Symbiose vereint, wo ihr gemeinsames Schicksal in den unendlichen Weiten des Universums verschmilzt. Genauso ist es. Das passt schon besser zu meinem Intellekt.
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