Von Manuel Fiammetta

Eines Morgens wachte ich, wie an jedem Tag seitdem ich in Rente bin, um 6:30 Uhr auf. Als ich noch in Lohn und Brot stand, ging es immer um 6:00 Uhr aus dem Bett. Die halbe Stunde länger zu schlafen, wollte ich mir schon gönnen, mehr aber auch nicht. Ich will ja schließlich noch was vom Tag haben.

So stand ich also auf und hatte kurze Zeit später diese Melodie im Kopf. Woher die plötzlich kam – ich wusste es nicht. Diese Melodie ließ jedoch mein Herz höherschlagen. Sie brachte mir ein wohliges Gefühl. Was mich aber ärgerte war, dass ich sonst nichts über dieses Lied wusste. Weder den Titel, noch den Interpreten, noch über die Tatsache, warum es ein solch positives Gefühl in mir auslöste.

Summend lief ich in die Küche und brachte meine Kaffeemaschine in Gang. 

Während meiner Routine im Badezimmer, kam mir dann die geniale Idee: „Platte“.

Sein richtiger Name war Volker, aber in Insiderkreisen wurde Volker nur „Platte“ genannt. Dies hatte hauptsächlich zwei Gründe: zum einen, wurde er, wie fast jedes Baby, ohne Haare geboren und gefühlt sind ihm auch nie welche gewachsen. Zum anderen, war er einst stolzer Besitzer eines Schallplattenladens und konnte dir wirklich jede Platte besorgen.

Wenn mir also jemand weiterhelfen würde, dann „Platte“.

Ein Anruf genügte und kurze Zeit später empfing mich Volker in seinem Haus. 

Wir gingen in sein Musikzimmer. Hier reihte sich eine Schallplatte an die andere. Ordentlich und alphabetisch sortiert nach Künstler und Erscheinungsjahr. In einem kleinen Regal befanden sich noch ein paar CDs. 

„Scheiß Sound“, schimpfte Volker als er bemerkte, wie mein Blick auf die kleinen silbernen Scheiben fiel.

Ich nickte.

„Die meisten davon hab´ ich geschenkt bekommen. Schmeißt man ja dann nicht weg. Was kann ich für dich tun, Peter?“

Ich schilderte den Verlauf des Morgens und summte ihm die Melodie vor. Leider war es immer derselbe Abschnitt des Liedes, den ich ihm mehr oder weniger melodisch vorsummen konnte. Mit jedem weiteren Mal, schien es bei „Platte“ klick zu machen. 

Er rieb sich mit beiden Händen über seinen kahlen Kopf. „Mach ma´ nochmal“, forderte er mich ein weiteres Mal dazu auf, meine Summeskünste zu präsentieren.

Mit weit aufgerissenen Augen, unterbrach er mich. „Ich glaub´, ich hab´ es. Das müsste „Lucy In The Sky With Diamonds“ sein“, sagte er und lief schnurstracks zu einem seiner vielen Regale.

„Was?“, stieß es aus mir heraus. „Was für ein Ding?“ Ich hatte von dem Titel noch nie etwas gehört oder konnte mich zumindest nicht daran erinnern.

„B, B, B, B“, murmelte Volker vor sich her. „Da ist das gute Stück“, freute er sich nach kurzer Suche und gab mir das Album in die Hand.

„The Beatles?“, fragte ich ungläubig. „Nicht meine Musik. Ich mag´ die überhaupt nicht. Bee Gees ok, aber die Beatles?!“

„Nicht das du dich wunderst, warum ich bei „B“ geguckt habe, obwohl es ja „The Beatles“ heißt“, fing Volker an sich zu erklären, während er sich weiße Baumwollhandschuhe anzog, „aber ich habe meine Alben bei „The“ Bands nach dem Folgenamen sortiert. Macht es für mich einfacher.“

Volker war sehr ordentlich wie ich bereits erwähnte und erklärte sich auch immer, wenn er das Gefühl hatte, andere könnten seine Arbeit kritisch sehen oder gar anzweifeln. Was ich gerade und auch sonst nicht tat, aber vor allem gerade nicht, weil ich viel zu perplex war, seit heute Morgen vermutlich ein Lied der Beatles im Kopf zu haben. Es gab eigentlich nur die Chance, dass Volker sich doch irrte.

Er nahm mir das Album wieder aus der Hand, griff vorsichtig hinein und holte die Schallplatte heraus.

„Höre und staune“, forderte er, während die ersten Töne erklangen. Dann der Gesang.

 

Es war, als fielen mir Schuppen von den Augen. Plötzlich stand alles vor mir. 1967. Eine Party. Ich war 19 und sah sie. Claire. Sie war eine Austauschstudentin aus Frankreich und hatte ihren vorletzten Abend in Deutschland.

Unsere Blicke trafen sich genau während diesem Lied zum ersten Mal. Sie hatte so wunderschöne Augen und einen Blick zum dahinschmelzen. Es war, als ob ich in ihre Seele schauen konnte und sie in meine. Es fühlte sich so vertraut an, obwohl wir uns gerade das erste Mal begegnet waren.

Ich fragte sie, ob wir ein bisschen zusammen tanzen möchten und so sahen wir uns nicht nur zu diesem Lied das erste Mal, sondern wir berührten uns auch zu diesem Lied das erste Mal und ich hörte ihre Stimme zu diesem Lied das erste Mal.

Sie roch so gut und ihre Stimme war so zart wie ihre Haut. 

Mit ihrem süßen Akzent sagte sie mir ihren Namen und dass sie seit drei Monaten in Deutschland sei, jedoch morgen Abend wieder zurück nach Frankreich fahre.

Ich war tieftraurig, ließ es mir aber nicht anmerken und genoss einfach den Moment. 

 

„Ist es das Lied?“ 

Volker riss mich aus meinem Traum.

„Ja“, hauchte ich ihm zu. „Ja, das ist es. Ich danke dir vielmals.“

„Kein Problem, Kumpel. Du weißt, „Platte“ hilft immer gern´. Du schaust so erschrocken. Oder eher so verliebt. Magst du die Beatles etwa doch?“

Ich erzählte Volker von damals.

„Und du hast das Mädchen seit dem Abend echt nie wieder gesehen?“

„Nein. Nie wieder. Leider.“

„Das ist tragisch. Wirklich tragisch. Du, kann ich das Gedudel wieder ausmachen? Ich mag die Beatles eigentlich auch nicht so wirklich.“

„Ja. Ja, klar. Mach´ ruhig aus“, antwortete ich noch ganz in meiner Vergangenheit versunken. „Schreib´ mir aber bitte den Titel auf.“

Wieder Zuhause angekommen, setzte ich mich an meinen PC und hörte mir das Lied nochmal auf YouTube an. Ich las die unzähligen Kommentare. Minuten vergingen, Stunden vergingen. Bis ich plötzlich aus allen Wolken fiel, als ich den Kommentar einer „Claire“ las:

 

Ich liebe dieses Lied, weil es mich an einen ganz besonderen Menschen aus meiner Studentenzeit in Deutschland erinnert. An Peter.

 

Der Kommentar war schon über vier Jahre alt. Sie kannte mich also noch. Sie erinnerte sich noch an mich. Erneut durchzog mich ein wohlig-warmes Gefühl.

Es musste doch irgendwie möglich sein, mit ihr in Kontakt zu treten. In den folgenden Tagen recherchierte ich so lange, bis es mir tatsächlich gelang, ihren Nachnamen herauszufinden und sie auf Facebook zu kontaktieren. Ihr Blick auf ihrem Profilbild war unverändert schön. Ich schmolz erneut dahin. Das man auch in einem höheren Alter wie dem Meinigen noch solche Gefühle empfinden konnte, war mir neu.

Ich schrieb sie an und schickte ihr einen Link von „unserem“ Lied.

Es dauerte nicht lange, bis sie antwortete. 

Wir schrieben uns eine Weile hin und her, bis wir uns dazu entschlossen, miteinander zu telefonieren. Es war so unbeschreiblich, ihre Stimme wieder zu hören. Claire hatte während ihres Studiums Deutsch gelernt und gebrauchte die Sprache dann auch in ihrem Beruf, aber ihr süßer Akzent war weiterhin heraus zu hören.

Schließlich verabredeten wir uns dazu, uns zu sehen. Claire frug mich, ob ich nicht Lust hätte, sie in Frankreich besuchen zu kommen.

Es schien, als wäre die Zeit seit unserem ersten und einzigen Treffen stehengeblieben und wir machten jetzt da weiter, wo wir einst aufhören mussten. Nur eben mit fast fünfzigjähriger Verzögerung.

 

Nun sitze ich hier auf heißen Kohlen und gepackten Koffern, schaue auf die Uhr und zähle die Minuten, bis der Zug nach Frankreich endlich in den Bahnhof einfährt. Im Gepäck habe ich noch eine Überraschung für Claire. 

„Platte“ ist schon ein zäher Bursche, wenn es um seine Schallplatten geht und es brauchte einiges an Überredungskünsten, bis er mir dann doch die Beatles-Platte mitgegeben hat. Natürlich habe ich Claire bei unseren Telefonaten dezent darüber ausgefragt, ob sie denn einen Plattenspieler besäße. Ich überlasse nichts dem Zufall. Nicht, wenn es um Claire geht.

Die Vorfreude auf das gemeinsame Hören unseres Liedes ist einfach riesengroß.

Da! Der Zug kommt!

 

Version 2