Von Agnes Decker

Als die Wirkung einsetzte, verließen wir gerade die Altstadt und bogen in die schmale Straße ein, die zum Hafen führte. Einzelne Straßenlaternen tauchten unseren Weg in ein schummeriges Licht. Von allen Seiten kamen  junge Leute. Ein gewaltiger Strom wälzte sich zu einem gemeinsamen Ziel. Ich sah sie miteinander reden, konnte sie aber nicht verstehen, nur ein Raunen drang zu mir, schwoll zu einem tiefen Brummen an, als sei ich in einem Bienenschwarm.

Plötzlich wurde es still. Die Straße war in ein gleißendes Strahlen getaucht. Ich schaute zum Himmel. Ein Licht, direkt über mir.  Es hatte die Form eines Planeten und war so hell, dass meine Augen zu brennen begannen. Ich überlegte, ob ich meine Sonnenbrille mitgenommen hatte. Eine Sonnenbrille. Mitten in der Nacht. Der Gedanke löste eine Lachsalve aus. Mitten in der Nacht. Eine Sonnenbrille. Ich prustete  und versuchte, mich Jonas der neben mir ging, mitzuteilen, rief auch den anderen etwas zu.  Aber es war, als wären Glasscheiben um mich herum. Anscheinend hatten sie mich trotzdem  verstanden. Sie lachten und kicherten. Jonas wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Eine Sonnenbrille. Nachts. Unglaublich. Das Lachen kam wie aus dem Nichts. Ich konnte es nicht beeinflussen. Es war selbständig, ein eigenes Wesen, das über mich herfiel und mich beherrschte. Ich japste und röchelte, mein Bauch schmerzte, der Atem ging schwer.

Einen Moment stehenbleiben. Ganz kurz nur. Die anderen waren weit vor mir, gingen eng nebeneinander und wurden schnell kleiner. Ich wollte sie einholen, kam aber nicht vorwärts. Die Straße mit ihrem Kopfsteinpflaster ploppte vor mir auf, rundete sich wie ein Brückenbogen, um kurz drauf wieder steil abzufallen. Ich setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Es war mühsam und ich keuchte. Meine Freunde schrumpften weiter, sahen jetzt aus wie Figuren in einer Märklin-Eisenbahn-Landschaft. Überhaupt schien alles um mich herum zu schrumpfen. Damit es in diese Märklingeschichte hineinpasste, dachte ich und fing wieder an zu kichern.

Jetzt begannen die Häuser links und rechts der engen Straße, sich zu verformen. Eins bog sich zu mir hinab, als wolle es mir ins Gesicht schauen, ein anderes schwankte hin und her, wie ein Grashalm im Wind. Sie sahen aus als hätte Hundertwasser sie gestaltet, blau und weiß und rosa und türkis, mit silbern glitzernden Dächern. Sie waren freundlich, aber ich hatte keine Zeit für sie, wollte weiter, versuchte auszuweichen, mich hindurch zu winden. Kaum passierte ich eins, hatte sich das nächste schon wieder etwas Neues ausgedacht, um mich zu behindern. Immer schneller bewegten sie sich. Wie im Zeitraffer stürzten sie auf mich zu, schneller, immer schneller. Auch die Straße wurde steiler in ihren An- und Abstiegen. Ich keuchte und hielt meinen Bauch.

Endlich öffnete sich die Enge und gab den Blick frei auf die Bühne. Sie thronte auf einer Plattform hoch über dem Meer, umsäumt von Millionen bunter, zuckender Lichter. Die Wellen spiegelten das Licht, nahmen es mit auf ihrem Weg. Vor und zurück, vor und zurück. In allen Regenbogenfarben schillernd, türmten sie sich auf und brachen sich mit Getöse an den Klippen, die Schaumkronen glitzernd wie Diamanten. Ich wusste nicht, wie lange ich schon zuschaute, hatte sämtliches Zeitgefühl verloren, fühlte mich als Teil des Meeres mit seinem unendlichen Kreislauf. Als ich wieder auftauchte aus meinem Versunkensein, hörte ich die Musik. So glasklar und rein, wie ich sie noch nie gehört hatte in meinem Leben. Geborgen in der Masse, bewegte ich mich auf die Bühne zu, die wie ein Raumschiff  über das Wasser ragte, als würde sie gleich abheben und alles, was sich gerade auf ihr befand, mitnehmen in eine andere Welt. Ich versuchte schneller zu gehen, wollte unbedingt mit, unbedingt dabei sein. Wurde gebremst, musste mich der Menge anpassen, die mich mit sich riss. Wie ein Organismus waren wir, alles funktionierte nur gemeinsam.

Die Musik wurde lauter, die Farben schriller. Rot, grün, blau, gelb, orange, lila – in allen Schattierungen. Sie formten sich, bewegten sich grazil, tanzten wie Polarlichter im Takt der Musik. Nacheinander schlüpften sie aus einer Lücke im Nachthimmel. Der Himmel war voll von ihnen, immer schneller hastiger entschlüpften sie, umkreisten, vereinigten sich, bildeten Formen und Figuren. Rauten und Kreise, Schwäne, lachende Gesichter, Planeten, ein Wolfsrudel und ein Schwarm Sonnenbrillen. Eine weitere Lachsalve sprudelte aus meinem Mund, unkontrollierbar wie die vorhergehenden Als sie endlich verebbte und ich immer noch dem Schauspiel am Himmel zuschaute, wurde von hinten heftig geschoben. Ich musste mich erden, um nicht zu stürzen und stemmte meine Füße fest auf den Boden.

Etwas drängte vorwärts, unerbittlich, schob mich vor sich her, bis ich auf der Bühne ankam. Um mich herum Chaos. Wild tanzende Menschen, in einem Meer aus zuckenden Lichtern. Ein Inferno von Farben und Musik. Die Gitarrenriffs schossen in meinen Körper, liessen ihn beben, herumwirbeln, sich beugen, die Arme heben, mit den Füßen stampfen. Die Bassdrum vereinte sich mit meinem Herzschlag, trieb ihn vor sich her. Ich liess mich hineinfallen in die Musik, verstand ihre Seele und sie verstand mich und ich begriff, dass all das Ich bin.

Die Musik veränderte sich, klang jetzt hohl, langgezogene Akkorde, die im Nichts verschwanden. Tanzenden um mich herum bewegten sich wie in Trance. Ich war eine Schwimmerin mitten unter ihnen.

Plötzlich wichen die Menschen vor mir zur Seite, bildeten einen Tunnel, indem sie sich an den erhobenen Händen fassten. Ich schritt hindurch, langsam und bedeutsam. Jetzt war mir klar,  was der Glaskasten bedeutete. Ich, verstand, dass ich geschützt wurde, wertvoll war. Nur ich würde diese Welt retten können. Nur ich wusste, wie alles zusammenhing, wie jeder kleinste Organismus einen Platz in diesem unendlichen Ganzen hatte. Und ich verstand, was zu tun war, um die Ordnung wiederherzustellen, die Kriege zu beenden, Frieden zu schaffen auf dieser Welt, und Glückseligkeit. Und, wie einfach es war, dies zu tun. Eine unendliche Liebe zu allem erfasste mich, Tränen liefen über mein Gesicht. Ich war ganz wie noch nie in meinem Leben. Die Welt um mich herum war in ein orangenes Licht getaucht. Tief in mir drin wurde es ruhig und warm. Ich sah mich, wie durch die Menschenmenge schritt, einen Guss vor den anderen setzend, ein Lächeln im Gesicht.

 „He.“ Etwas versuchte in meinen Glaskasten einzudringen. Es klopfte an die Scheibe, winkte. Das Gesicht war verzerrt. Wie bei einem ein Kind, das sich am Schaufenster die Nase plattdrückte. Der Mund war blau und die Augen glitzerten in Regenbogenfarben, die geometrische Muster bildeten. 

Kalaydoskopaugen, dachte ich und versank darin.

„Ilvy.“ Wie durch eine Watteschicht gedämpft klang es. .„Ilvy… hi…hi…hi….” Das Echo nahn die Stimme  mit, bevor sie mich erreichen konnte..

 Eine Hand griff nach meiner Schulter.

 „Smoke… mok… mok… mok…,

on…,non…,non…,non

„Ilvy, du bleibst jetzt bei mir.“

„The… he… he…he….

„Water… her… her… her…“

Silben knallten mir entgegen, laut, so laut. Eine Salve von Gewehrschüssen. Soll aufhören. Ich hielt mir die Ohren zu. Tat so weh.

„Ilvy, wir gehen jetzt zu den anderen, ren… ren… ren…“ Das Gesicht mit den blauen Lippen war dicht vor meinem. Jonas. Was wollte der? Er sollte weggehen. Ich riss mich los, drängte durch die tanzenden Menschen. Eine Brücke, schmal, aus Holz. Alles schwankte, ich klammerte mich ans Geländer. Unter mir das Meer. Wellen krachten an die Felsen, zogen sich zurück, riefen mich, wollten, dass ich mitkam. Eine Treppe, steil und wacklig. Jemand nahm meinen Arm. Unten eine Menschenschlange vor einer Pforte im Felsen. Ich reihte mich ein. Die Musik wurde leiser und ich konnte das Rauschen des Meeres hören. Langsam schob sich die Schlange weiter. Frauen, überall Frauen. In meinem Kopf drehte sich alles. Wollten sie etwas von mir? Warum starrten sie mich an?

Das Holztor öffnete sich. Ein niedriger Raum mit einem Spiegel, der die gesamte Wand einnahm, beleuchtet mit farbigen Glühbirnen, Waschbecken davor, dahinter der Fels. Gegenüber Nischen, die man in die Klippen gehauen hatte, mit Plumpsklos drin.

Allein sein. Ruhe. Der Schweiß lief. Mir war heiß. Ich verbrannte. Ich öffnete eine Tür. Es stank. Nach Scheiße und nach Schwefel. Tor zur Hölle. Ich musste weg. Riss die Tür wieder auf. Mein Herz raste. Wasser, kaltes Wasser.  Drehte den Hahn auf. Hielt Hände und Gesicht darunter. Hob den Kopf. Ein Gesicht. Geisterbleich in Rot getaucht. Eine Schnauze. Weit aufgerissen, riesige Zähne, eine dicke, lange Zunge, glühende Augen. Fauchen drang aus dem Maul. Es streckte seine Klauen durch den Spiegel. Etwas Pelziges berührte meine nackten Arme. Ich schrie. Die Klauen gruben sich in meinen Körper, wühlten darin herum. Jetzt stürzten die Farben auf mich zu, verformten sich zu Händen, die nach mir griffen, zu Mündern, die auf mich einredeten. Ich schrie.

                        *****

„Ilvy, hallo. Sie hat sich bewegt. He, Ilvy, komm zu dir.“

Als ich die Augen öffnete, schwebte ein Gesicht über mir. Ich schrie.

„Ilvy“, eine Hand strich über meine Wange. „Ich bins, Jonas.“

Mein Blick wurde klarer und ich sah Jonas und seinen besorgten Blick, den ich so gut kannte.

„Mann warst du drauf. Es ist vorbei, Süße. Wie geht es dir?“

Wie es mir ging? Ich wusste es nicht. Spürte noch die Reste der Angst, die sich in meiner Seele festgekrallt hatte. Versuchte, zu lächeln. Schaute in seine Augen und sah Tränen. Jonas weinte. Um mich.

Da wussten wir beide noch nicht, dass ich sie nie mehr loswürde, die Bilder, dass sie wiederkämen, damit ich sie nicht vergesse – diese  Reise. Und um zu erhalten, was man nicht erklären kann, das man spüren muss: Das Wissen um die Zusammenhänge von allem, um die allumfassende Liebe und das abgrundtief Böse. Und die Angst – vor beidem.

Später habe ich einen Song darüber geschrieben mit dem Titel: „Himmel und Hölle“ und mich einer Antidrogenkampagne angeschlossen.

Wegen den vielen,  die nicht zurückgekehrt sind von ihrer Reise.

 

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