Von J.W. Anders

 

Ich nicke und denke gleichzeitig: Nein, ich bin nicht bereit. Automatisch drücke ich meine Fingerspitzen gegen die Ohren. Gleich gilt es!

Lucy. Sie ist in meinem Leben das, was Eltern hätten sein sollen. Hat das schreiende und um sich schlagende zweijährige Bündel an sich gedrückt und sich nicht abschrecken lassen. Dabei hat sie sich nie ein Leben mit Kind vorgestellt.

Sie war so anders als ihr vorsichtiger Bruder. Dennoch waren es meine Eltern, die in einem Schrotthaufen starben. Ich weiß nicht viel von ihnen, das meiste aus Lucys Erzählungen. Aber mit ihnen verbinde ich dieses Gefühl von Geborgenheit und Wärme, während Lucy Abenteuer und Herausforderung bedeutet.

Lucy, mein großes Vorbild. Lebendig von den Zehen bis in die Haarspitzen. Bunt im Alltagsgrau. Immer sie selbst, in jeder Sekunde. Malte und schrieb Gedichte. Wenn sie mich auf den Jahrmarkt schleppte, fuhren wir Autoscooter und Wilde Maus und sie juchzte lauter als ich. Anzügliche Blicke prallten an ihr ab.

Sie träumte vom Fliegen. In ihren Gedichten sah sie die Welt von oben. Kritisch und distanziert. Und dennoch liebevoll. Der Kondor, der mit Riesenschwingen auf Luftströmen dahingleitet, war ihr Lieblingsmotiv. Das war ihr großer Wunsch an mich: lass uns zusammen fliegen, den Wind um die Nase wehen, die Welt in Miniatur sehen.

Ach Lucy, du fehlst mir. Dein Lachen, das so tief von innen kam. Deine Traurigkeit, die so dunkel sein konnte. Dieses Intensiv Leben, das an dir klebte, wie an anderen Frauen Parfum. Du wolltest so viel ausprobieren, so viel erleben. Musstest meinetwegen mit der Sparversion zufrieden sein. Statt in ferne Länder gingen wir Bergwandern und auf Radtouren. Selbst zum Fliegen kamen wir nicht mehr.

Bloß keine Beerdigung mit dem üblichen Trara, noch nicht einmal ein Baum. Standard war dir immer unwichtig. „Mach mit mir, was du willst“, hast du gesagt. Asche zu Diamanten. Diamanten zu Ohrringen. Ich habe mir extra Ohrlöcher stechen lassen, damit du heute bei mir sein kannst.

Mein Herz rast. Zu gern würde ich jetzt in deine Augen schauen: voller Vorfreude und Abenteuerlust. Deine Finger verschränkt mit meinen. Ich habe Angst, ganz die Tochter meines Vaters. Dein Lächeln hätte mich mutig gemacht.

Tandemflug. Das Gefühl grenzenloser Freiheit – so steht es in der Annonce. Wind um die Nase, um die Ohren wehen lassen. Auf weiten Schwingen. Wie der Kondor in deinen Gedichten. Mir zittern die Knie. Ich taste nach den Ohrsteckern.

Mein Tandempilot gibt mir einen Klaps auf die Schulter. Los geht’s‘ s. Hinaus ins Blau.

Das hier ist für dich, Lucy!

 

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