Von Matthias Herrmann

 

Lucy hatte gerade die Biotonne durch die Hofeinfahrt auf die Straße geschoben und wollte zurück in ihre Hauswartswohnung im Erdgeschoss, als sie hinter sich statt dem beruhigenden Ins-Schloss-Fallen der schweren Hoftür ein heftiges Schnaufen vernahm. Dieses Herausgerissensein aus der normalen Geräusch- und Ereignisabfolge ließ sie sich umdrehen und verwundern. Warum drückte dort ein junger, schwer atmender Mann gegen die Tür, um den Schließprozess zu beschleunigen? Sie zweifelte sofort am Erfolg dieses Vorhabens, folgen doch die Schließbewegungen von Hoftüren bekanntlich ihren eigenen gleichermaßen planetaren Bahnen und lassen sich von menschlichem Ansinnen und -drücken nicht von ihrem vorbestimmten Ins-Schloss-Fall-Fluss abbringen.

Doch endlich hatte die Hoftür ein Einsehen und krachte mit einem saftigen Klacken ins Schloss.

Nun presste der junge Mann, Lucy schätzte ihn auf kurz vor der Volljährigkeit, sein Ohr gegen die Tür. Ja, warum hat er sie denn zugedrückt, wenn er jetzt wissen will, was auf der anderen Seite passiert?

„Was ist denn los?“

Der junge Mann zischte sie an: „Leise!“

Dann antwortete er ihr, ohne sie anzusehen, das Ohr immer noch an die Tür gepresst, flüsternd: „Keine Ahnung. Stress machen? Ich weiß nicht, was die von mir wollen!“

„Wer?“

„Na, die Bullen!“

Bullen. Bullen. Haut die Bullen, platt wie Stullen! Lucy musste an den Kampfschrei ihrer revolutionären Jugend denken. Jeden 1. Mai hatte sie auf der richtigen Seite der Barrikaden gestanden. Ein Schauer durchlief sie: „Alles was uns fehlt, ist die Solidarität!“

Sie trat auf den Jungen zu, schob ihn zur Seite und öffnete die Tür. Doch außer friedlich parkender Autos unter schattigen Bäumen, der hauseigenen Biotonne, vereinzelten Lastenfahrradfahrern und Männern mit Kinderwägen war die Luft rein. Keine Gefahr nirgends.

„Hier sieht´s gut aus!“, raunte sie ihm zu.

„Ich muss weiter!“

„Ist das nicht zu gefährlich?“

Der Junge zuckte mit den Schultern. Mit einem „Lass mich durch, Oma!“  drückte er sich an ihr vorbei auf die Straße.

Lucy blickte ihm bis zum Abgang zur U-Bahn hinterher, wo sie ihn aus den Augen verlor. Was eine Aufregung! Sie strich sich ihre Rasta-Zöpfe aus dem Gesicht und verschloss die Hoftür sorgfältig, als sie vor sich auf dem Boden der Hofeinfahrt ein Plastiktütchen mit blauen Kügelchen bemerkte.

 

Es war neun Uhr morgens, als Lucy am nächsten Morgen von einem Dauerklingeln an ihrer Wohnungstür geweckt wurde. Diese verdammten Paketboten! Wann war das eigentlich eingerissen, dass sie die Pakete der Nachbarschaft annahm? War es nicht goldenes Rentnerinnenrecht an einem Wochentag ausschlafen zu dürfen? Noch dazu Amazon-Pakete, die den Einzelhandel im Kiez zerstörten! Lucy beschloss das Klingeln auszusitzen und lenkte ihr Denken auf den gestrigen Abend.

 

Sie hatte noch lange mit ihrem Lebenspartner Timo gesprochen, ihm von ihrem Erlebnis mit dem jungen Mann („Wir haben die Bullenschweine echt ausgetrickst!“) und dem Tütchen mit den blauen („Fast ein Yves-Klein-Blau!“) Perlen berichtet.

„Das sind Trips! LSD! Die kannst du doch im Görli verticken“, hatte Timo gewitzelt. Er würde sie auch begleiten, als Bodyguard sozusagen. Und an so alten Leutchen wie sie beiden, würde sich doch eh keiner vergreifen.

„Und was machen wir dann mit der Kohle?“, hatte Lucy ihn gefragt und er hatte von der Möglichkeit der Wiederinbetriebnahme seines alten Unimog geschwärmt. Sie beide könnten damit dann die Sahara durchqueren. Sie könnte ihren selbst gemachten Schmuck an Touristen verkaufen. Und auf dem Rückweg würden sie im Zwischenboden Leute nach Europa schmuggeln. Dann wäre das Zeug noch für etwas gut!

„Hm. Ich wollte es schon ins Klo kippen!“

„Haha! Ratten auf Speed!“, lachte Timo.

„Ich denke mal drüber nach, Schatz!“

„Schlaf gut!“ hatten sie sich verabschiedet, denn gemeinsames Übernachten erlaubten sie sich nur noch alle 14 Tage, um die Spannung in ihrer Beziehung aufrecht zu erhalten.

 

Das Klingeln an der Haustür ging nun in ein Gehämmer gegen die Haustür über.

„Ick glob, ick spinne!“, schimpfte Lucy, warf sich ihren Bademantel über, schlüpfte in ihre Pantoffeln mit dem Anarchie-Zeichen, ein Geburtstagsgeschenk von Timo, und stampfte zur Tür.

 

„Und was passierte dann?“, fragte Timo.

„Ich machte die Tür auf. Es war der Typ von gestern. Er schleuderte mich zur Seite, schrie: ´Hau ab, Oma!´ Der Beutel mit den Trips lag auf dem Küchentisch. Den schnappte er sich und weg war er! – Autsch. Kannst du das Bett mal etwas steiler stellen? Danke, Timo.“

„Aber woher wusste er, wo du wohnst?“

„Wohnen Hauswartsfrauen nicht immer Parterre unten rechts? Nein. Keine Ahnung. Wenn er nicht so schnell bei mir fündig geworden wäre, hätte er vermutlich das ganze Haus durchsucht.“

„Tja, dann wird es nichts mit unserer Sahara-Tour“, erklärte Timo und knuffte Lucy in die Seite.

„Autsch! Mensch, Timo! Mit so einer Rippenprellung ist nicht zu spaßen!“

 

Als Lucy am nächsten Tag aus der Charité entlassen wurde, holte Timo sie mit dem Tandem ab. Es war ein freundlicher Tag im Mai, die Sonne schien und die Bäume raschelten im Wind. Sie fuhren zu ihrem Lieblingscafé im Englischen Garten und bestellten sich ihre obligatorischen Sahnetorten.

Und als Timo von der Toilette kam, er musste in letzter Zeit immer häufiger Wasser abschlagen, prangte jeweils ein blaues Kügelchen auf den Kuchenstücken.

„Lucy! Du bist ja eine ganz Schlimme!“, spielte Timo den Empörten.

„Du weißt doch, man muss immer etwas für sich abzweigen. Haben wir doch früher immer so gemacht!“

„Stimmt. Na, dann guten Appetit!“

„We don´t want a piece of the cake. We want the whole fucking bakery!”

 

Und in trauter Synchronizität hieben sie ihre Gabeln in die Sahnestücke, genau dort, wo jeweils die Perle prangte, hebelten ein Stück heraus und verspeisten es. Und plötzlich, plötzlich war der Himmel über Berlin, so blau, so ganz und gar Yves-Klein-Blau!

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