Von Ingo Pietsch
Dirk, Muriel und Ilvy hatten sich gleich nach der Schule in der Innenstadt beim großen Labyrinth getroffen.
Es bestand aus einer undurchdringlichen Eibenhecke, die keine Abkürzungen zuließ.
Über verschachtelte Wege kam man ins Innere zu einer großen Engelsfigur.
Das Labyrinth war eine Touristenattraktion und immer gut besucht.
Mitunter konnte man Stunden darin verbringen, denn es gab eine mystische Besonderheit: Die Wege bildeten sich auf geheimnisvolle Art und Weise über Nacht neu. Es war zwecklos, sich die Abkürzungen merken oder eine Karte zu erstellen.
Deswegen war es so spannend das Labyrinth zu erkunden.
Der Legende nach zu urteilen, hatte es eine Alchemisten erschaffen, um dem Geheimnis des ewigen Lebens auf die Spur zu kommen. Als ihre Zeit gekommen war, war sie in ihr eigenes Werk gegangen und nie wieder herausgekommen.
Auch, das dann und wann Besucher der Anlage verschwunden waren, gehörte wohl ins Reich der Märchen.
Die drei Jugendlichen spielten erst verstecken, hatten sich dann aufgeteilt und jeder war einen anderen Weg gegangen.
Die Gänge waren breit und sie trafen immer wieder andere Leute, die hier spazieren gingen.
Nur nachts traute sich niemand hier herein, nicht mal als Mutprobe.
Plötzlich rief Ilvy: „Erste! Los holt mich ein!“
Dirk und Muriel trafen sich wieder und rannten schneller.
Sie schätzten, dass es nicht mehr weit war, als eine Lichtsäule in den Himmel schoss, aus der Richtung, wo Ilvy sein musste.
Schließlich erreichten sie den Mittelpunkt. Ilvy war nicht mehr dort. Doch die steinerne Sanduhr, die die Engelsgestalt in den Händen hielt, drehte sich und rastete mit einem Klacken ein. Dann fegte ein starker Wind durch die Gänge und es wurde unnatürlich kalt.
Dirk und Muriel sprachen panisch Leute an und suchten überall, aber sie konnten Ilvy nicht finden.
Irgendwann wurde ihnen bewusst, dass das Märchen vielleicht stimmte und die Alchemisten erneut ein Opfer gefunden hatte, um ihr Leben zu verlängern.
Fünfundzwanzig Jahre später
Durch das Küchenfenster konnte Muriel ihren Mann Dirk genau beobachten, wie er das Baumhaus auf dem alten, gestutzten Kirschbaum fertigstellte. Er brachte gerade eine Strickleiter an.
Die Zwillinge würden sich bestimmt freuen, wenn sie von ihrer Fahrradtour zurückkamen.
Die Sonne schien herrlich und sie würden heute Abend noch Grillen.
Muriel wusch ab und wollte im Anschluss alles für das Abendessen vorbereiten.
Die Haustür knallte und Janne rief in den Flur: „Wir sind wieder da!“
Schritte kamen näher, während Muriel einen Teller spülte und dabei weiter in den Garten sah, wie Dirk mit der Leiter kämpfte.
Hanne meldete sich zu Wort. Nur Muriel konnte die beiden Mädchen unterscheiden, da sie sich oft auch gleich kleideten: „Wir haben eine neue Freundin mitgebracht. Sie heißt Ilvy.“
Der Name löste einen stechenden Schmerz in Muriels Brust aus. Sie drehte drehte sich um und der Schmerz wurde stärker, als sie das Mädchen erblickte.
Ilvy schien im gleichen Alter wie ihre 12-jährigen Töchter zu sein. Muriel schlug die Hände vor den Mund, weil sie es nicht fassen konnte.
„Mama, was ist mit dir? Hast du einen Geist gesehen?“, fragte Janne ungläubig.
Tränen liefen Muriel über die Wangen und sie brachte keinen Ton über die Lippen.
Dieses Mädchen hieß nicht nur Ilvy; das war Ilvy! Ilvy, ihre beste Freundin und die vor fünfundzwanzig Jahren spurlos verschwunden war. Sie war nicht einen Tag gealtert.
Ilvy war kreidebleich geworden und sah verwirrt drein. Kein Wunder – sie hatte gerade eine Zeitreise hinter sich. Wie hatte sie die letzten 25 Jahre erlebt?
„Dirk!“, rief Muriel in die plötzliche Stille, dass alle drei Kinder zusammenzuckten. „Dirk! Komm sofort her.“
Niemand rührte sich.
Dirk kam, ohne den Blick von der total verdrehten Strickleiter abzuwenden, in die Küche und sagte: „Dieses blöde Ding lässt sich einfach nicht aufhängen.“ Er sah auf, weil niemand Notiz von ihm nahm und erblickte Ilvy. „Nein“, stammelte er, „das ist unmöglich.“
„Mama, Papa, was ist denn los?“, wollte Hanne wissen.
„Wer bist du?“, bohrte Dirk mit ernster Stimme nach.
„Ich bin Ilvy. Warum schaut ihr mich alle so komisch an?“, Ilvy wusste nicht, was um sie herum passierte. Ihre Mundwinkel zuckten, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
Dirk ging zu seiner Frau hinüber und hielt sie an den Schultern. „Ich hoffe, dass das nur ein schlechter Scherz ist und hier irgendwo eine versteckte Kamera hängt“, er sah sich suchend um, „aber ich will euch gerne erzählen was damals passiert ist.“
Nachdem er geendet hatte sagte Muriel, die sich zu Ilvy heruntergebeugt hatte und ihre Hand hielt: „Wir bringen dich sofort zu deinen Eltern. Sie wohnen nur ein paar Straßen weiter.“ Sie blickte ihr in die Augen, als könne es ihr so bestätigen, dass es ihre beste Freundin von damals gewesen war.
Dirk merkte, wie Ilvy am ganzen Körper zitterte, weil sie Angst hatte.
„Sollen wir vorher anrufen, dass wir kommen?“, fragte er.
„Ja, besser. Aber nur, dass wir kommen.“ Muriel schnappte sich die Autoschlüssel und verfrachtete alle ins Auto.
„Was ist damals passiert?“, wollte Dirk von Ilvy wissen. Jetzt erkannte er, dass sie immer noch die gleiche Kleidung und den gleichen Zopf wie damals trug. Das hatte er nie vergessen können. Auch nicht, dass die ganze Stadt nach ihr gesucht und die Polizei sogar ihn und Muriel in Verdacht hatten, etwas mit dem Verschwinden zu tun gehabt zu haben. Letztendlich war es als Gewaltverbrechen abgetan worden.
Ilvy blickte ins Leere. „Damals?’ fragte Ilvy. Ich weiß nur, dass gerade bei der Engelsstatue ein seltsamer Lichtblitz erschienen ist und mir kurz schwindelig wurde. Als ich wieder zu mir kam, standen da Hanne und Janne und frugen, wie es mir geht …”
„Wir hatten doch gesagt, dass ihr euch von dem Labyrinth fern halten solltet!“, meinte Muriel scharf.
„Ja“, antwortete Janne kleinlaut.
„Wir sind da.“ Dirk bog in die Einfahrt ein. „Ilvy, du musst noch wissen, dass du zwei jüngere Geschwister hast. Wenn ich es recht überlege, sind sie sogar älter als du.“ Er versuchte zu Lächeln, bekam aber nur eine Grimasse zustande.
Dirk, Janne und Hanne blieben ein Stück vom Eingang entfernt stehen und Muriel klingelte. Ilvy stand so, dass man sie von drinnen nicht sehen konnte.
Ilvys Mutter öffnete die Tür und drinnen zankten sich, den Stimmen nach zu urteilen, zwei Teenager und dann ging der Vater dazwischen. Er kam dann auch zur Tür.
„Muriel, Dirk, was habt ihr denn? Ihr klangt am Telefon so kryptisch“, Ilvys Mutter sah deutlich älter aus, als sie tatsächlich war. Der Verlust ihrer Tochter hatte ihr stark zugesetzt.
„Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll“, begann Muriel. „Es geht um Ilvy.“
Sofort wandelte sich der Gesichtsausdruck von Ilvys Mutter und der Vater sagte leicht aufgebracht: „Wie haben längst damit abgeschlossen, da gibt es nichts mehr zu bereden. Danke, dass ihr da wart.“ Er wollte seine Frau wieder ins Haus zerren, als Muriel zur Seite ging.
Ilvys Mutter brach zusammen und ihr Mann fing sie auf. „Wer ist das?“, man konnte seine Worte vor innerem Schmerz kaum verstehen „Und warum tut ihr uns das an?“
Ilvy ging ein paar Schritte zurück. Sie wollte wegrennen, wegen der Ablehnung ihrer Eltern. Janne und Hanne hielten sie auf.
„Ich habe keine Ahnung, wie das möglich ist, aber sie ist es. Janne und Hanne haben sie im Labyrinth gefunden, genau dort, wo wir sie vor fünfundzwanzig Jahren verloren haben. Ich kann es wirklich nicht erklären. Aber ich bin froh, dass sie wieder da ist.“ Alle begannen zu weinen.
Langsam gingen die Eltern auf ihre Tochter zu und nahmen sie schließlich in die Arme.
„Wer ist das?“ fragten die Teenager, die inzwischen auch nach draußen gekommen waren.
„Eure ältere Schwester“, brach es aus Ilvys Mutter unter Tränen heraus.
Als sich der Trubel ein wenig gelegt hatte, stand Ilvy vor einem Spiegel und betrachtete sich von oben bis unten. Ihre Augenfarbe änderte sich und mit rauer Stimme sagte sie: „Dann müssen wir uns diesen Körper halt teilen.“
Oft hatte die Alchemisten versucht, anderen die Lebensenergie zu rauben, aber so hatte sie sich das ewige Leben nicht vorgestellt, nur zeitweise diesen Körper kontrollieren zu können. Aber mit der Zeit würde sich das sich zu ihren Gunsten ändern …
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