Von Thomas Gärtner
Willst du was gelten, dann mache dich selten.
(Deutsches Sprichwort)
Rugenstein war und ist der ungekrönte König der Abwesenheit. Das ist so sicher wie der Dritte Weltkrieg. Keiner kann ihm das Wasser reichen. Keiner. Nur wissen wir im Moment nicht, wo zum Teufel der Kerl steckt. Wissen Sie das?
Seitdem er sein dreibändiges Werk “Theorie der Abwesenheit” veröffentlicht hatte, war es merkwürdig still um ihn geworden. Alle Welt wartete und wartet noch auf Band IV. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, es ist Heiligabend, und unter dem Tannenbaum liegt dieses Buch. Vielleicht sogar handsigniert! Was würden Sie dann tun? Richtig: Sie würden vor Aufregung sterben.
Um Ihnen und mir diese quälende Zeit des Wartens ein wenig zu versüßen, möchte ich noch einmal an die Stationen seiner sagenhaften Karriere erinnern.
Schon von frühester Kindheit an – so berichten uns seine Biographen – zeigte sich das große Talent Rugensteins. Keine Gelegenheit ließ er aus, um es zu entfalten. Ein wahres Wunderkind. Er fehlte bei seiner Einschulung. Bei Klassenfahrten und Klassenarbeiten. Bei der Zeugnisvergabe. Und sogar bei der Abiturprüfung.
Selbstverständlich bestand er diese Prüfung mit einer dicken Eins. Denn Rugenstein wäre nicht Rugenstein, hätte er diese Prüfung wiederholen müssen.
Auf den vielen Partys seiner Studentenzeit, so berichten seine Biographen weiter, verhielt sich Rugenstein so unauffällig, dass sich hinterher niemand, aber auch wirklich niemand an ihn erinnern konnte. Und die Wenigen, denen das dennoch gelang, sagten übereinstimmend aus, er habe einen “extrem abwesenden Eindruck” gemacht. Beschwören mochten sie es allerdings nicht, dass es sich überhaupt um Rugenstein gehandelt habe. Darin zeigt sich eben der wahre Meister.
Aber eine solche Meisterschaft hat auch ihre Tücken. Rugenstein selbst berichtete davon, wie er bei den Gehaltsauszahlungen der Firma stets vergessen wurde und anhand des Arbeitsvertrages Monat für Monat nachweisen musste, dass er überhaupt Mitarbeiter der Firma war. Kein Vorgesetzter, kein Kollege vermochte sich daran zu erinnern, ihn je gesehen zu haben. Seine Anwesenheit konnte nur durch eine Kette von Indizien erschlossen werden. Etwa durch die Eintragungen auf seiner Stempelkarte. Oder durch das Vorhandensein eines Büroraumes, auf dessen Eingangstür sein Name vermerkt war. Oder durch die vielen Geschenke, die die Chefsekretärin allmorgendlich auf ihrem Schreibtisch fand und die allesamt mit der Grußkarte: “Von Rugenstein” versehen waren.
In diese Zeit fiel auch das entscheidende Ereignis, das den Anstoß zur Theoriebildung gab. Nach einem langen und zermürbenden Streit drehte sich seine Freundin damals beleidigt zum Spiegel, um ihre Frisur zu überprüfen. Diese Augenblicke nutzte Rugenstein, um sein Schweigen in die extreme Form der Abwesenheit zu überführen. Das hatte diese Frau damals tief beeindruckt. Und für Rugenstein war es ein Schlüsselerlebnis: Die Geburtsstunde seiner “Theorie der Abwesenheit.”
Aber ich will Sie nicht länger mit Rugenstein-Anekdoten langweilen. Wichtig ist im Grunde nur seine Theorie – die epochemachende Theorie der Abwesenheit, die bereits von vielen Historikern als “Höhepunkt der abendländischen Kultur” gefeiert wird.
Rugenstein war der Fachwelt bereits aufgefallen durch einige Essays, die er in verstreuten Zeitschriften veröffentlicht hatte, etwa seine inzwischen legendäre Abhandlung: “Fehlen auf dem Standesamt”. Darin wies er zwingend nach, dass nur der, welcher über die Technik der gekonnten Abwesenheit im entscheidenden Moment der Trauung verfügte, seinem Leben eine einigermaßen glückliche Wendung zu geben imstande war. Das “Wiederauftauchen” nennt Rugenstein in diesem Essay ein “Eingeständnis des eigenen Versagens” oder noch drastischer (in: Gesammelte Werke Band 2, S.486) : eine “Kapitulationserklärung der Vernunft”.
Die Persönlichkeit eines Menschen bildet sich nämlich keineswegs in den kommunikativen Verhältnissen der Familie, der Schule, des Berufs, des Freundes- und Bekanntenkreises. Diesen Quatsch, den uns die Soziologen seit gut einem halben Jahrhundert weismachen wollen, können wir nach dem Erscheinen der Theorie der Abwesenheit locker in die Tonne treten.
Denn Rugenstein hat gezeigt, dass sich die Identität eines Menschen aus der Summe der mehr oder minder geglückten Momente seines Fehlens, seines Verschwindens, seiner Abwesenheit bildet. Es kommt alles darauf an, im richtigen Augenblick und an der richtigen Stelle zu fehlen: Gekonnt abwesend sein, das ist es, was im Leben zählt. Und nichts anderes. Nicht dabei sein. Sich rar machen. Nicht mitmachen. Sich ausblenden. Von der Bildfläche verschwinden. Die Kunst besteht, so Rugenstein, darin, diese Nicht-Präsenz deutlich spürbar werden zu lassen. Gelingt dies nicht, dann war alles umsonst. Dadurch unterscheidet sich der Meister vom blutigen Dilettanten: Der Dilettant fehlt einfach bloß, der Profi kennzeichnet sein Fehlen als solches. Er unterstreicht es. Dieses Fehlen spricht eine beredte Sprache. Es sagt uns gleichsam: “Seht her! Ich fehle.” Der Volksmund kennt diese tiefe Weisheit in Form der Redewendung: “Durch Abwesenheit glänzen”. Die Wissenschaft nennt solche Strukturen der Abwesenheit inzwischen Rugensteinsche Strukturen.
Die Philosophiegeschichte kennt aber auch tragische Fälle misslungener Abwesenheit. So wird vom griechischen Philosophen Empedokles (483-424 v. Chr.) berichtet, er habe sich in den Vesuv gestürzt, um durch plötzliche Abwesenheit einen Mythos aus sich zu machen. Leider spie der Vulkan einen Schuh des Philosophen wieder aus, so dass daraus nichts wurde.
Derartig hässliche und peinliche Pannen sind zu vermeiden. Und gerade diesem Problem widmet sich Rugenstein laut Verlagsankündigung in seinem nächsten Buch, von dem man immerhin den Titel schon weiß:
Praxis der Abwesenheit – Die Kunst überall zu sein, indem man nirgendwo ist.
Deshalb sind wir ja auch alle so scharf auf dieses Buch. Viele von uns Rugenstein-Fans sind mittlerweile dazu übergegangen, in unsere Terminkalender einzutragen, wann und wo wir abwesend sein werden. Und nicht etwa Verabredungen, die dann womöglich auch noch eingehalten werden! Diese typischen Anfängerfehler gilt es durch stetiges und geduldiges Üben auszumerzen. Die Regelmäßigkeit ist hier entscheidend, das betont Rugenstein immer wieder. Sie sollten mit den Grundübungen des Verschwindens, also den Vorformen der Abwesenheit, beginnen und diese dann allmählich zu einer systematischen Einübung des Fehlens steigern. Üben sie das Verschwinden und Fehlen täglich mindestens dreimal – das ist wichtig.
Sie werden sehen: Ihre Beziehungsprobleme werden sich in nichts auflösen. Ihre Beziehungen eventuell auch, aber man muss Opfer bringen beim Experimentieren mit Rugensteinschen Strukturen. Bedenken Sie, aller Anfang ist schwer. Und es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.
Außer Rugenstein selbst, den wir eines Morgens vom Dach seines Bungalows stürzen sahen. Er wollte dort wohl gerade eine Fernsehantenne installieren. Selbstverständlich fand das Notärzte-Team, das wir sofort alarmierten, keine Spur von ihm. Wie sollte man auch. Einen Meister überführt man nicht so schnell der Anwesenheit. Erst eine Woche später sahen wir Rugenstein dann für den Bruchteil einer Sekunde im Fernsehen wieder, wo er sämtliche Pressekonferenzen absagte.
Inzwischen ist Rugensteins Theorie, das wissen Sie so gut wie ich, längst nicht mehr bloße Theorie. Die Wirklichkeit hat Rugenstein mittlerweile ein- und überholt. Unser Alltag ist durchsetzt mit Strukturen des Fehlens, des Verlorengehens, der Verabschiedung, des Verpassens, des Nicht-mehr-Vorhandenseins. Neuester Trend dieses “Nicht-mehr-Anwesendseins” ist zweifellos das “Erst- gar- nicht- Hingehen”, das sich steigender Beliebtheit erfreut. Und zwar gerade dort, wo man Abwesenheit am wenigsten vermutet: in Chatrooms, auf Beerdigungen, im Bundestag, in den Pilotencockpits, an den Kassen der Supermärkte usw. usw. usw. Ersparen Sie mir bitte die vollständige Aufzählung Rugensteinscher Strukturen, denn sonst wird dieser Text nie fertig.
Es hat wohl niemanden ernsthaft überrascht, dass Rugenstein im letzten Frühjahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuerkannt bekam. Selbstverständlich saßen wir bei der Preisverleihung in der ersten Reihe. Und ebenso selbstverständlich fehlte Rugenstein – eine Tatsache, die der Festredner in seiner Laudatio als weitere Glanzleistung des Preisträgers würdigte.
“Jedes Fehlen, meine Damen und Herren, ist ein Handeln”, sagte er mit mühsam unterdrücktem Pathos in der Stimme. “Diese Haupterkenntnis der Rugensteinschen Theorie der Abwesenheit sucht in der philosophischen Tradition von Parmenides über Kant bis hin zu Habermas seinesgleichen.”
Alle Blicke waren nun auf den Sitzplatz gerichtet, den der Preisträger eigentlich hätte einnehmen sollen, und die Lichtkegel der heißen Scheinwerfer ließen den leeren Stuhl des Philosophen in einem übernatürlich hellen Licht ergleißen.
Die Abwesenheit Rugensteins wurde in diesem Moment so gegenständlich und greifbar, dass er nahezu schon wieder anwesend war. Viele meiner Freunde behaupten sogar, sie hätten die sich bereits abzeichnenden Umrisse des großen Denkers wahrnehmen können.
Wir waren tief erschüttert. Erst jetzt begriffen wir das volle Ausmaß der Rugensteinschen Genialität.
Wie dem auch sei, seit diesen Tagen warten wir, wie gesagt, hochgespannt auf sein neuestes Werk. Wir wären allerdings auch keineswegs enttäuscht, wenn es nicht erschiene. Im Gegenteil!
Stellen Sie sich doch einmal vor: Millionen, die sehnsüchtig auf das Erscheinen des Buches warten. Die danach fiebern, an den neuesten Erkenntnissen dieses bedeutenden Mannes teilzuhaben. Die nachts schon nicht mehr schlafen können und sich ungeduldig von einer Seite auf die andere wälzen! Also: All diese vielen Menschen wollen die Anwesenheit dieses Buches auf dem Büchermarkt. Und zwar ohne Kompromisse. Sie wollen das ganze Buch. Ohne “Wenn” und “Aber”. Sie wollen es ganz und gar.
Und dann erscheint es einfach nicht.
Wie genial ist denn das? Und: Wer könnte das noch toppen?
V2