Von Patrick Brauner

Jedem wird das Gefühl vermittelt, er müsse sein Innerstes nach außen tragen. Über das Internet, über soziale Medien, degenerieren wir. Mit dem Inneren ist aber nicht das Beste eines jeden gemeint, sondern das, was sich schamlos über alles zieht, was lebt. Man tat Dinge, meistens dumm und unüberlegt – Aufmerksamkeit war dir gewiss. Und wenn jemand bekannt ist und aus dem, der bekannt war, jemand wird, der nun berühmt ist, kann man davon ausgehen, dass diese Person genau so ist, wie sie sich die ganze Zeit gegeben hat und gibt – nicht.

Das ist 2025, wie Bernd es erlebt. Bernd ist 37 Jahre und kein Single. Er hat einen Sohn mit neun Jahren und ein ausgefülltes Leben, sollte man meinen. Er schreibt für sein Leben gern und schießt von allem, was er sieht, Bilder. Er steht sich oft selbst im Weg und das weiß er. Der Gedanke, er könne sich unsichtbar machen, ist tief in seiner Psyche verankert.

Bei den etlichen Versuchen, in seinem Leben anerkannt und gesehen zu werden, war er nicht überzeugt genug gewesen. Auf die Schnauze geflogen, würde ein Freund sagen. Er aber flog nur auf den Boden. Nie erreichte er den Punkt in seinem Dasein, dazuzugehören; er hat es zumindest nie so empfunden. In seinem tiefsten Inneren so zu fühlen, dass er zum Himmel emporsteigen hätte können. Der Himmel als Ausdruck des Zustandes höchster Zufriedenheit.

Der Status quo war also immer derselbe, erst ging es ein paar Schritte vorwärts und dann ein paar Schritte zurück. Am nächsten Tag wieder ein paar Schritte vorwärts, und wieder ein paar Schritte zurück. Wie eine Treppe, die nie endet, wenn man sie stetig hoch- und wieder hinabsteigt. Als endlosen Versuch, endlich zu verstehen, warum die Treppe eine Treppe ist und genau so heißt.

Fernab dieser Treppe loderte ein kleines Feuer, das zu einem mittelgroßen Feuerwerk wurde, das in ihm heranwuchs, würde er genau so weitermachen wie bisher. Bernd blieb sich treu. Bernd übte sich im Verrat an sich selbst, wenn andere von ihm mehr erwarteten; wenn sie Dinge sagten wie: Du Hund, was bist du nur so zerstreut. Als hätte man eine Kanne Reis umgekippt. Und das Öl würde darüber laufen. Wie willst du das beseitigen, lieber Bernd?

In solchen Momenten erlosch das Feuer, und später am Tag, wenn er etwas Nettes las von einem guten Autor, sagte er sich: brenne, du Feuer. Das Ergebnis sei der Lohn für den zeitweiligen Glauben an seine eigene Person, und bedeutete: sich selbst zu spüren.

Bernd liebte sein Leben. Einen Tag später hasste er es. Hass ist auch ein Gefühl, hatte er einmal gelesen. Und der Hass, der in jedem Menschen von uns vorhanden war – dessen war Bernd sich sicher –, der war es, der das Leben lebenswert machte. Er spürte, also war er tatsächlich er. Er spürte auch den Hass, wenn er verfliegt.

Der Fernseher als Ausdruck zu Unterhaltung, degenerierter Schamlosigkeit, der Wettbewerb, wer denn nun schlimmer dran sein sollte, war die zentrale Frage an diesem Abend bei diesem Programm. Bernd ging auf den Fernseher zu und besah die einzelnen Punkte, die das Bild zu einem Bild machten. Gesprochenes Wort, gekleidet in einem Mantel aus Scheinheiligkeit und dem Willen zu unterhalten.

Du bist wieder zu spät, dröhnte es in sein Ohr. Sein Chef sprach gerade eine Nachricht auf das Band. Ich kann auch anders, das sagte Bernd, aber das sagte er nie seinem Chef. Wie der Fernseher ist der Anruf getränkt in Scheinheiligkeit und Dummheit. Wie könnte ein Mensch, der ihn erst wenige Wochen kannte, behaupten, er käme zu spät? Wohl immer zu spät? Zu spät an der Kasse? Zu spät im Kreißsaal? Zu spät an der Ampel? Zu spät im Leben?

Bernd hörte die Nachricht bis zum Abend mehrmals. Noch nie hatte ihm wohl ein Drecksack aufs Fressbrett gegeben, Bernd wollte fluchen. Aber die Energie ließ er nicht fließen. Ja, du am Apparat. Jetzt. Am besten siehst du fern und lässt dich von dem Programm dumm machen und dumm halten, hatte er das Telefon angeschrien. Ja, da gehörst du hin, Herr Morgenrot, Chef vom Dienst. Chef von Dummheit und Torheit gleichermaßen.

Bernd legte sich an diesem Abend in sein Bett, ohne Ton und ohne Bild, wie er es nannte. Er las ein Buch, und es ging auf in der Stille. Die Seiten trabten an ihm vorbei. Bernd ließ sich Zeit, er las jeden Satz vergnüglich mehrmals, bis jeder Laut, der auf ein Wort folgte, in seinen Windungen angekommen war, sich entfaltet hatte.

Er liebte Bernhard. Er verkörperte für ihn das, was er selbst im Inneren war. Schonungslos. Diesen Drang zu sagen, was man dachte, war das, was Bernd an ihm zutiefst verehrte. Es gab eine Szene, Bernhard saß auf Mallorca auf einem Stuhl und monologisierte fabelhaft die Welt. Er sah sich das Video mehrmals die Woche an. Man braucht nicht erwähnen, dass er es liebte. Ob es für Bernhard den Montag auch gab?

Wenige Stunden trennten Bernd vom Montag und er wusste, alle hassten diesen Tag. An den anderen Tagen verzweifelten sie ebenfalls. Wie konnte man nur den Montag lieben und ehren, hatte ihn einmal der Zeitungsverkäufer vom Kiosk am Bahnhof rhetorisch gefragt. Wie könne man nur eine Zeitung lesen?, war seine Gegenfrage. Den Montag zu ehren und zu erleben ist wie ein Stück der Zeitung umzublättern und mehrmals anzufassen. Genießen Sie nicht auch jeden Windhauch, der die Zeitung in Bewegung versetzt und erbeben lässt?, wollte er nun wissen. Bernd war weitergegangen und sprach diesen Satz in sich hinein. Wie gerne hätte er diesem Trottel diesen Satz gedrückt. Diese Frage auf die Stirn getackert.

Bernd war inzwischen am Ende seines Monologs angekommen. Alle bekamen ihr Fett weg, besonders er selbst. Das war ihm aber nicht klar. Noch nicht. Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei. Bernd saß jetzt am Bett statt darin zu liegen. Er stand an der Wand. Er saß jetzt auf dem Sofa. Sofa.

Zurück zu Bernds Zerrissenheit. Gerissen ist ihm der Geduldsfaden, als er sich vorstellte, der Zeitungsverkäufer könnte tatsächlich seine Gedanken gehört haben und dazu gesagt haben, dass er doch spinne. Spielen wir einmal durch: Bernd würde spinnen. Das würde er tatsächlich als Kritik im positiven Sinne verstehen. Niemand hatte es bisher gewagt, etwas an Bernd zu kritisieren.

Bernd war die meiste Zeit überhaupt nicht da. Und er war tagsüber viel unterwegs. In der Stadt, in seinen Gedanken, in der Wohnung. Draußen war er oft, aber nicht oft anwesend. Jemand grüßte ihn einmal, Bernd blickte in die Richtung, aus der der Laut kam, und fokussierte erst einmal. Er hatte eine Brille, trug sie aber nicht. Er behauptete immer, er müsse nicht sehen, wenn er da vor sich habe. Sein Leben glich oft einem Versteckspiel. Er sah jeden, grüßte aber nur ungern. Und tat immer so, als würde er Menschen hassen.

Einmal bekam er einen Anruf von einer Vertrauenslehrerin, und sie bestimmte den Ton. Es ging um seinen Sohn, verträumt und wie ein Flummi. Sein Sohn war überall und nirgendwo, hatte Bernd einmal zu seiner Mutter gesagt. Er sagte dies ständig. Denn er war wie er. Verstecken konnte er sich nicht. Aber da sein und doch nicht da – das funktionierte.

Auf jede Frage der Lehrerin antwortete er mit: Seinem Sohn ginge es gut. Er ist nun mal so. Er werde darauf achten, dass die Hausaufgaben erledigt würden. Niemals würde er ehrlich sein und einfach nur schreien: Lassen Sie ihn sein, wie er will. Er will nicht hier sein. Er will leben.