von Susanne Rzymbowski
Alfred war schon immer ein Einzelgänger. Er hatte sich bislang ganz gut alleine durchgeschlagen und eigentlich ganz zufrieden mit seinem Leben, so wie es sich gestaltete. Natürlich hatte auch er von etwas anderem geträumt, aber er wollte nicht maulen. Das hatte man ihm im Kinderheim schon frühzeitig abgewöhnt. Und in der Schule hatte er meistens geschwiegen.
Im Großen und Ganzen lief es doch ganz gut, jetzt, wo er den Job auf der Kirmes gefunden hatte.
Was wollte er also mehr?
Er verbrachte viel Zeit draußen, an den rauen Ton musste er sich nicht erst gewöhnen, da er diesen von Kindesbeinen her kannte und für Abwechslung war gesorgt. Auch liebte er den täglichen Bratapfelgeruch, den Duft der Würstchen und Fritten, auf die er gerne in seinen Pausen zurückgriff, wenn er durch das Budenmeer wanderte, begleitet vom lauten Hall der ständig dröhnenden Musik und dem Tuten und Tröten der einzelnen Attraktionen, die abends im Leuchtfeuer der bunten Birnen im Takt zu spielen schienen.
Alfred war einfach gestrickt. Er machte sich nicht viele Gedanken, sondern tauchte gerne in diesen Trubel ein, wenn er nicht gerade hinter der Glaswand saß und Tickets für den Booster Maxx verkaufte.
Die vielen Gesichter der Besucher glitten dabei an ihm vorbei – er nahm sie schon gar nicht mehr wahr.
Seine Tage waren lang und abends fiel er meistens wie erschlagen in seinen kleinen Caravan, der ihm zugeteilt worden war. Er brauchte nicht viel Platz und persönliche Dinge waren ihm unwichtig und auch fremd. Seine Hosen jedoch waren ihm heilig – vielleicht ein Spleen von ihm, sein einziger wie er fand.
Freundschaften oder Bindungen ging er aus dem Wege – er wusste selbst nicht so recht warum, aber zu viel Nähe konnte er nicht ertragen und von sich erzählte er auch nicht so gerne. Beliebt war er dennoch, denn seine verhaltene und doch immer hilfsbereite Art wurde auf der Kirmes sehr geschätzt.
Zu Anfang hatte man Alfred zwar etwas argwöhnisch beäugt, denn neben seinen immer sauberen und gebügelten Hosen und seiner sonst unauffälligen Gestalt, fiel er im Sommer durch seine Tätowierungen auf, die sich über Arme und Beine erstreckten. Und mit der Zeit kamen immer mehr Bilder hinzu, die für den Betrachter beliebig und wahllos wirkten.
Alfred liebte das Tätowieren. Schon als Jugendlicher hatte er damit begonnen und die ersten Bilder sogar selbst gestochen. Er mochte das Ritzen auf der Haut und genoss es wenn sich die Nadeln in ihn einbrannten.
Er suchte sich die unterschiedlichsten Motive aus und erfreute sich heute an seinem Drachen, den er sich auf die Brust hatte gravieren lassen – pünktlich zu seinem Geburtstag.
Lange hatte er mit der Auswahl zugebracht und war überglücklich, endlich die geeignete Variante gefunden zu haben. Besonders gut gefielen ihm die feuerroten Augen, die förmlich glühten und eine direkte Hitze auszuströmen schienen. Und das direkt auf seinem Herzen! Diese Stelle hatte er sich extra ausgesucht und darauf bestanden, dass der Tätowierer die Vorlage so lange hin und her schob, bis die Augen genau über seinem Herzen lagen.
Natürlich wusste kein anderer von diesem Unterfangen, schon gar nicht von den Kosten, die damit einhergingen. Glücklicherweise hatte man ihm eine Ratenzahlung ermöglicht und Alfred war froh, diese nach heutigem Zahltag begleichen zu können, denn er blieb nur ungern anderen etwas schuldig.
Dies war nun auch der Grund, warum Alfred dieses Mal auf seine pünktliche Lohnauszahlung beharrte, was ihm ansonsten nicht ganz so wichtig war.
Da jedoch die Einnahmen der letzten Tage nicht so gut gewesen sein sollten – die Kirmesbesucher wurden immer rarer – vertröstete man Alfred auch heute auf spätere Tage.
Nun war es Alfred aber genug!
Er sagte nichts weiter, machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück in sein Verkaufshäuschen, dessen Türen er hinter sich verschloss.
Zweimal drehte sich der Riegel.
Allem Anschein nach hatte Alfred die Verweigerung wieder einmal geschluckt, so wirkte es zumindest auf die anderen.
Mit einem strahlenden Lächeln verkaufte er die Karten für den Booster Maxx und blickte den Besuchern sogar freundlich in die Augen.
Er betätigte geschäftig das Schaltpult und ließ die Motoren für die nächste Fahrt an, die im Rausch von Geschwindigkeit, sich um die eigene Achse drehend, ins Sitzpolster gedrückt ein lautes Juchzen bei den Gästen hervorrief.
Und im schönsten und schnellsten Moment drückte Alfred mit einem genüsslichen Grinsen auf den Lippen das Knöpfchen und die tolle Fahrt endete abrupt!
Selbst die Musik stellte Alfred aus, um die ängstlichen Schreie der Insassen zu hören, die nun kopfüber, nur von einer kleinen Sicherheitsstange gehalten, Richtung Boden baumelten.
Alfreds Grinsen wurde immer größer und auch kein Hämmern an die Scheiben seines Verkaufshäuschens konnte ihn dazu bewegen, die Motoren wieder anzulassen.
Je lauter geklopft und gehämmert wurde, je kreischender die Stimmen – Alfreds Grinsen wurde immer breiter.
Ja, Alfred ließ tatsächlich seinen Drachen los!
Und um es allen zu zeigen, riss er sogar sein Hemd auf – und die roten Augen des Drachens waren nun blutunterlaufen und fieberten förmlich mit jedem Schlag seines Herzens wie eine glühende Feuersbrunst!
Alfred konnte nicht aufhören zu Grinsen in all dem Tumult, den er alleine verursachte.
Sein Drache war nicht mehr zu bändigen und je schriller die Stimmen wurden, desto lebendiger wurde er in ihm.
Alfreds Drache war los – nach all den Jahren – und er ließ sich jetzt nicht mehr bremsen.
Selbst sein Chef, mit nunmehr blassem Gesicht und schwitzigen Händen, der jetzt mit den vorab verweigerten Geldscheinen vor der Kabinentür wedelte, konnte Alfred in seiner Raserei nicht mehr erreichen.
Nach einer halben Stunde traf dann endlich die Polizei ein, die sich eine Schneise durch die tobende Menschentraube bahnte und die Tür zu Alfred aufbrach um ihn nach einem kräftigen Gerangel in Handschellen wortlos zur Wache abzuführen.
Von den roten Augen des Drachen wurde jedoch noch lange gesprochen.