Von Monika Heil                    

Mit lautem Knall fliegt die Eingangstür zu. Jochen zuckt zusammen, als habe ihn ein Schuss getroffen.

»Bleib hier!« Unnatürlich hoch und schrill klingt Evas Stimme. Doch Melanie kann sie nicht mehr hören.

»Bist du nun zufrieden?«, giftet Jochen seine Frau an, die langsam, fast in Zeitlupe, den Blick zurück an den Familientisch lenkt.

»Das habe ich nicht gewollt«, presst sie zwischen Lippen hervor, die aussehen wie zwei weiße Striche.

»Nie hast du das oder jenes gewollt.«

»Hol sie zurück. – Bitte. Auf dich hört sie.«

»Ach lass´. Das Kind wird sich schon beruhigen. Bis Mittag taucht sie wieder auf. Glaub´ mir. Ich muss jetzt auch los.«

Schwerfällig steht er auf, streicht seiner Frau unkonzentriert über die Schulter, beugt sich für einen gehauchten Kuss über sie und geht aus dem Zimmer. Sie hört seine Schritte auf der Treppe nach oben, schließt die Augen und versucht, die eben erlebte Szene, den Tag, die Welt da draußen auszusperren. Kurz darauf fällt die Eingangstür erneut ins Schloss. Leise diesmal.

             ***

Sie hatte alles besser machen wollen als ihre eigene Mutter, hatte ihr Kind mit Liebe, nicht mit Strenge und Härte erziehen wollen. Hatte sie beschützen wollen vor den hässlichen Seiten der Welt. Als sie Jochen kennenlernte, war Eva gerade mal sechzehn Jahre alt gewesen. Viel zu jung, um schon ein Jahr später Mutter zu werden. Aber alt genug, ihrem eigenen Elternhaus zu entfliehen. Dass sie von einer Abhängigkeit in die nächste rutschte, wurde ihr lange nicht bewusst.

 

Schwerfällig steht Eva auf, schlurft zum Kühlschrank, öffnet die Tür, greift nach der angebrochenen Weinflasche. Sie nimmt sich nicht die Zeit, ein Glas zu füllen, trinkt so hastig aus der Flasche, dass sie sich verschluckt. Sie hustet und hustet, greift nach der Küchenrolle, wischt Mund und Nase ab, setzt sich wieder.

 

So kann das nicht weitergehen. Sie weiß es. Jochen hat ihr das immer wieder gesagt. Er hat Recht. Sie verliert das Kind, wenn sie so weitermacht. Ein Schluckauf schüttelt sie, zerhackt ihr Lachen. Das Kind! Melanie ist fünfzehn Jahre alt und – dank Florian – viel zu reif für ihr Alter. Eva kann den Kerl nicht ausstehen. Dieser Bengel ist schuld. Er hat sie zur Frau gemacht. Ihr kleines Püppchen. Jochens Prinzessin.

 

Wo ist sie jetzt gerade? In der Schule. Ja klar. Und danach? Wieder bei dieser schrecklichen Clique draußen am Alten Bunker?

»Wir kennen die meisten Mitglieder dieser Gruppe. Wir kümmern uns darum«, hatte man ihr beim Jugendamt versprochen. »Sie kommen eben alle aus schwierigen Verhältnissen.« Als sei das eine Entschuldigung. Melanie ist Teil dieser Clique. Und Florian.

Jochen und ich leben in geordneten Verhältnissen. Wir sind kein schwieriges Elternhaus, denkt Eva zornig. Jochen hat seit zwei Monaten wieder eine feste Arbeit. Ist manchmal tagelang unterwegs. Meist nach Skandinavien. Eva arbeitet auf Abruf bei einem Baumarkt. Regale einräumen. Manchmal drei Tage hintereinander acht Stunden täglich, dann wieder zwei Tage gar nicht. Sie braucht den Job. Das muss Melanie doch begreifen.

 

Fahrig sucht Eva in den Taschen ihres Morgenmantels nach ihrem Handy.

»Hi, hier ist Melanie. Kann nicht, will nicht – oder so. Versuch´s am besten gar nicht nochmal. Und tschüss.«

Was für eine Ansage. Eva bricht in Tränen aus. Sie fühlt sich so allein. Wen kann sie anrufen? Freundinnen hat sie keine. Ihre Mutter? ´Vergiss es`, dröhnt eine Stimme tief in ihr drin. Doch nochmal beim Jugendamt? ´Zwecklos`, hört sie Jochens resignierten Bass. Eva starrt die nun leere Weinflasche an. »Jeder ist für sich selbst verantwortlich«, erklärt sie dem Etikett und beschließt, nochmal ins Bett zu gehen. Doch sie kann nicht wieder einschlafen. Das Gedankenkarussell dreht und dreht sich. Gegen Mittag bleibt es plötzlich stehen. Eva weiß, was sie zu tun hat. Alles wird gut.

 

Eine Stunde später hat sie geduscht, sich sorgfältig angezogen und geschminkt. Sie betrachtet das Gesicht im Badezimmerspiegel. Diese Person, die jetzt so schüchtern lächelt, ist die Einzige, die ihr wirklich helfen kann. Sie selbst, Eva Sander, wird mit ihrer Tochter ins Reine kommen und ihr helfen, ihren Weg im Leben zu finden.

»Wir stärken einen Menschen, wenn wir ihm ein wenig helfen. Doch wir schwächen ihn, wenn wir ihm zu viel helfen.« Wer hat das kürzlich gesagt? Ach ja, Frau Voss, Melanies Lehrerin. Alles wird gut. Jetzt weiß sie es. Sorgfältig schließt Eva die Haustür ab und geht den kurzen Weg zur Schule. Dort wird sie ihre Tochter abholen, sie zu einer Pizza einladen und mit ihr reden.

 

»Melanie hat heute wieder den Unterricht geschwänzt. Frau Sander, Sie und Ihr Mann müssen etwas unternehmen. Sonst muss ich erneut das Jugendamt benachrichtigen.« Eva registriert beides – Unverständnis und Resignation. »Melanie verschließt sich immer mehr. Ist sie krank?«

»Wieso? Hat sie das gesagt?«

»Nein. Ich habe nur seit ein paar Tagen das Gefühl, sie hat Schmerzen. Offenbar im Bauchbereich.«

»Ach das«, wehrt Eva schnell ab. »Das ist nur psychisch.«

»Sagt wer?«

»Ihre Ärztin.«

»Wie heißt die?«

Eva verschluckt sich, hustet, denkt nach.

»Dr. Bertram.« Irgend ein Name.

»Wo könnte Melanie sein?«

»Ich befürchte im Alten Bunker mit dieser schrecklichen Clique um Florian Mende. Ich gehe da jetzt hin und dann bringe ich sie zum Arzt.«

»Tun Sie das, Frau Sander. Und wenn Sie Hilfe brauchen – hier ist meine Handy-Nummer. Scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen.«

»Danke Frau Voss. Ich komme allein klar.«

Fast fluchtartig verabschiedet sich Eva und macht sich auf den weiten Weg zum Alten Bunker, draußen am Rande der Stadt. »Alles wird gut«, wiederholt sie, gleich einem Mantra, auf dem ganzen Weg.

                 ***

Jochen ist seit sechs Stunden unterwegs. Bei jedem Stopp überlegt er, Eva anzurufen, tut es dann doch nicht. Was soll das bringen? Sie werden wieder nur streiten, sich verbale Verletzungen zufügen, noch mehr auseinander driften. Wäre Melanie nicht, hätte er längst das Weite gesucht. Nur ihretwegen hält er seine Ehe aufrecht. Bis Melanie auf eigenen Füßen stehen kann. Das Kind wird seinen Weg gehen, sagt er sich. Sie braucht nur etwas mehr Selbstbewusstsein. Das kann man lernen. Florian und seine Freunde bringen ihr bei, wie man sich wehrt im Leben. Der Junge wird das erfolgreicher schaffen als ich. Mir ist das nicht gelungen. Weder bei Eva, noch bei Melanie. Leider.

                        ***

Melanie windet sich vor Schmerzen. Vor drei Tagen fing das an. Immer wieder, mal nur ein bisschen, mal heftiger. Sie hat nichts gesagt. Niemanden. Sie ist kein Weichei. Seit vier Stunden liegt sie in ´ihrem Zimmer` wie sie die dunkle, feuchte Ecke genannt haben. Florian hat damals alles angeschleppt. Eine alte, schmuddelige Matratze, einen abgewohnten Sessel mit durchhängenden Sprungfedern, Tisch, zwei Stühle, ein Schränkchen, zwei Kaffeebecher mit dummen Sprüchen, vier Gläser. ´Ihr Zimmer.` Hier hat er ihr gesagt, dass er sie liebt. Dass sie unbedingt die Schule fertig machen muss, dass sie zusammenziehen, sobald er seine Lehre beendet hat und Geld verdient.

 

Wo bleibt er nur? Heute ist Berufsschultag. Da kommt er immer schon gegen zwei hierher. Sie wimmert vor Schmerzen, kann nicht aufstehen. Sie kann es nicht länger verheimlichen. Es tut so höllisch weh. Wenn Florian nicht kommt, muss sie doch ihre Mutter anrufen. Melanie wird schlecht. Sie muss sich übergeben. Scheiße! Ihr Handy, das eine Erweiterung ihrer rechten Hand zu sein schien, ist in die Ritze zwischen Matratze und Wand gerutscht.

                   ***

Ein Krankenwagen mit Blaulicht fährt an, stoppt nach wenigen Metern, um die Gestalt nicht umzufahren, die wie aus dem Nichts gestikulierend vor ihm auftaucht.

»Das ist Melanies Mutter«, schreit Florian und springt aus dem Auto. »Ich erkläre ihr alles. Wir kommen zusammen nach.« Der Sanitäter nickt und gibt wieder Gas.

 

Mit weit aufgerissenen Augen starrt Eva dem davon rasenden Fahrzeug nach, schüttelt den Arm des jungen Mannes von ihren Schultern ab und schreit Florian an:

»Fass´ mich nicht an! Was hast du mit meiner Tochter gemacht, du Dreckskerl?«

»Sch, sch, sch, ganz ruhig Frau Sander. Ihre Tochter ist auf dem Weg in die Klinik. Wahrscheinlich Blinddarm, sagt der Notarzt. Alles wird gut. Kommen Sie, wir fahren dem Krankenwagen nach. Wo steht Ihr Auto?«

»Ich bin zu Fuß. Wir besitzen keins.«

»Wir laufen zur Hauptstraße. Ich bestelle uns ein Taxi dorthin.«

Eva wehrt sich nicht länger, als Florian erneut schützend den Arm um ihre Schulter legt.

 

Eine halbe Stunde später erreichen sie das Krankenhaus, fragen sich durch, sitzen schweigend auf dem Gang vor dem OP und warten.

»Alles wird gut«, versichert Jochen, als Eva ihn anruft. Er kann seine Tour jetzt nicht abbrechen. Das versteht sie. Florian hat versprochen, bei ihr zu bleiben.

 

»Frau Sander? Dr. Langhans. Frau Sander, es tut mir so leid. Wir konnten …«

»Wieso, es ist doch nur der Blinddarm!«, unterbricht Eva laut und vorwurfsvoll.

»Richtig. Doch Ihre Tochter kam zu spät. Wir konnten sie nicht retten. Es war ein Durchbruch, Frau Sander. Es tut mir so leid.«

 

Version 2