Von Barbara Heeb

Nun sprach Matthias schon wieder nicht mehr mit ihr. Sophie fegte den Hof und war den Tränen nahe. Sie fegte wie ein Orkan, die Staubwolken stoben.

Gestern hatten sie sich wieder gestritten. Um eine Kleinigkeit. Es ging immer um dasselbe. Es ging immer um Geld. Dann war Matthias abgefahren, mit einem Gesicht. Enttäuscht sei er. In seine Stadtwohnung. Schließlich war gestern Sonntag gewesen und heute Montag und auf Matthias‘ Tisch türmten sich die Berge von Arbeit.

Vor einem halben Jahr erst waren sie nach Sizilien gekommen. Voller Vorfreude. Auf einer Insel im Süden leben! Sie hatten ein kleines Haus auf den Hügeln oberhalb der Stadt gekauft. Matthias könnte ja pendeln. Doch schon bald hatte Matthias festgestellt, dass die tägliche Fahrt viel zu nervenaufreibend sei und sich eine kleine Wohnung in der Stadt genommen. Und unversehens lebte Sophie alleine auf dem Land, alleine in einem fremden Land, schwanger von einem Mann, den sie gerade mal zwei Tage in der Woche sah, manchmal auch drei.

Wie rasch man doch in ein Leben schlittert.

 

Matthias meinte immer, wie gut sie es doch habe. So viel freie Zeit. So viel dolce far niente. Das Kinderzimmer war bereits eingerichtet. Kinderbettchen, Wickelkommode, ein hübscher Teppich, Wolken, Schafe und Sternchen an den frisch gestrichenen Wänden. Mehr brauche es nicht, fand Matthias. Doch Sophie sah all die hübschen Dinge, die es noch zu kaufen gäbe. Die Plüschtiere, Wärmflaschen, Deckchen, all das Schöne, das es noch herzurichten gäbe, damit das Baby es richtig kuschelig hätte, aber Matthias meinte immer, das hätte ja noch Zeit.

Von der Veranda aus konnte man die Bucht von Palermo sehen. Sie verbrachte Stunden damit, aufs Meer zu starren und auf die fernen Dächer der Stadt. Die Geräusche zu erahnen. Das Hupen der Autoschlangen, das Dröhnen der Schiffe, das Rufen der Leute. Sie sah das Getöse der Stadt lautlos vor sich und es war ihr, als ob sie taub wäre. Das Gewimmel des fernen Lebens unter ihr und Matthias mitten drin. Sie war neidisch. Die Stadt fehlte ihr. Das Klappern der Tassen in den Cafés, das Rascheln der Kleidung im Bus, die vielen Gedanken, die unbemerkt durch die Lüfte zischten, die fremden Gesichter, das Gemurmel, das Zwielicht, die Vielsprachigkeit … Sie hatte immer gedacht, sie könne gut alleine sein, aber jetzt stellte sie fest, dass anscheinend erst das Leben der anderen sie selber lebendig machte.

Wenn das Kind erst einmal geboren war, würde sich alles ändern. Dann hätte sie sowieso keine Zeit mehr, über ihr Leben nachzudenken und darüber, was alles falsch gelaufen war. So stellte sie es sich vor.

 

Einmal hatte sie ihm vorgeschlagen, das Haus wieder zu verkaufen und zusammen in der Stadt zu wohnen. Matthias hatte sie entsetzt und mit großen Augen angeschaut. Dass sie sich so etwas auch nur ausdenken konnte, fand er unerhört. Ein Kind, SEIN Kind, mitten in Palermo? Das kam überhaupt nicht in Frage, viel zu ungesund und viel zu gefährlich! Matthias regte sich so schnell auf. Seither hatte Sophie das Thema nie wieder erwähnt. Und schließlich, wie hatten sie sich auf das Leben im Süden gefreut! Sie hatten sich vorgestellt: ein Garten mit alten Bäumen, ein gedeckter Tisch auf der Wiese. Sonne überall und in der Ferne das Meer. Ein altes Haus mit Terrakottaböden und dicken Wänden. Sie würden ständig Gäste haben. Familie und Freunde würden sich die Klinke in die Hand geben, weil alle Teil dieses Lebens sein wollten, Teil dieses Glücks! Und Sophie als Gastgeberin mittendrin. Sizilianische Spezialitäten würde sie auftischen, selbst gebackenes Brot, herrlichen Wein! Das Leben würde ein einziges Fest sein! Und wirklich, Freunde hatten leuchtende Augen gekriegt, wenn sie von ihren Plänen erzählt hatten. Das muss ja herrlich sein! Wie gut sie es doch hätten! Auf jeden Fall würde man zu Besuch kommen, auf jeden Fall! Einmal waren seine Eltern gekommen und einmal ihre. Aber auch da hatten Matthias und sie sich wieder gestritten und alles war schal geworden.

 

Natürlich hatte Sophie ihre Stelle als Buchhändlerin aufgeben müssen. Der Abschied war ihr schwergefallen. Sie hatte ihre vier Arbeitskollegen zum Picknick an den See eingeladen, an einem der letzten warmen Abende. Sie hatten die Füße ins Wasser baumeln lassen und zum Schluss hatte Sophie die Tränen nicht mehr zurückhalten können. Die Freunde hatten ihr hoch und heilig versprochen, sie besuchen zu kommen. Bis jetzt war niemand gekommen, aber der Sommer fing ja gerade erst an.

 

Sophie stellte den Besen in die Ecke und setzte sich auf die Stufen vor der Tür. Den Kopf auf beide Hände gestützt, schloss sie die verweinten Augen. Das Kind würde ihre Position stärken, so hoffte sie.

Manchmal stellte sie sich vor, ihn zu verlassen. Eines Tages, wenn Matthias von seiner anstrengenden Woche aus Palermo zurückkehrte, einfach nicht mehr da zu sein.

Sie ließ den Blick schweifen. Die Terrasse sah langsam so aus, wie sie sie haben wollte, nur der kleine Pool war noch leer. Matthias hatte versprochen, ihn nächstes Wochenende zu füllen. Dann müsse sie ihn aber auch benutzen, hatte er gesagt, fast drohend hatte es geklungen. Matthias war kein Genießer. Er hatte das Haus aus praktischen Gründen mitsamt Einrichtung einem deutschen Paar abgekauft. In vier Jahren würde er es wiederverkaufen.

Sophie stand auf und ging ins Haus, um sich hinzulegen. Sie hatte Kopfschmerzen. Später würde sie sich endlich wieder einmal hinter das Italienisch klemmen müssen. Was hatte sie sich zu Hause noch etwas eingebildet auf ihre Sprachkenntnisse, doch einmal angekommen, war ihr Enthusiasmus rasch verflogen. Sie verstand kaum ein Wort, wenn die Nachbarinnen mit ihr redeten und konnte keine zwei Sätze hintereinander stammeln. Und das nach einem halben Jahr! Sie mussten Sophie für eine Vollidiotin halten.

Mit einem kühlenden Lappen auf der Stirn legte sie sich auf das Bett. Was sie eigentlich noch alles wolle, hatte Matthias zum Abschied gerufen. Ja, was eigentlich? Sie wusste es nicht mehr. Sie hatte ihr ganzes Leben aufgegeben, um schlussendlich in einem abgedunkelten Zimmer auf einem fremden Bett zu liegen. Mit verheulten Augen und einem nassen Stück Stoff auf der schmerzenden Stirn.

Das Baby war unruhig. Kein Wunder, wenn sie sich so aufregte. Sie legte die Hand auf die Stelle, wo kleine Füße gegen ihre Bauchhöhle traten. Noch immer wusste sie nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Matthias wollte sich überraschen lassen, fand, so sei es doch viel schöner. Alles im Leben sei durchgeplant, er wolle sich wenigstens von seinem Kind noch überraschen lassen. So tönte Matthias, der seinen Idealismus einrichtete, gerade wie es ihm gefiel.

 

Noch nicht so lange war es her, da hatten sie sich verschlungen vor Leidenschaft.

 

Einmal hatte sie zu ihm gesagt, wenn er sie wie eine Mätresse halten wolle, dann müsse er ihr mehr Geld geben. Sie sei seine Frau, hatte er geantwortet, und wenn sie seine Mätresse sein wolle, dann müsse sie es ihm öfter besorgen. Da waren sie beide betrunken gewesen, normalerweise redeten sie nicht so derb.

 

Das Klingeln der Haustür ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Sie stützte sich auf ihre Ellbogen und spähte durch die Ritzen der geschlossenen Läden. Es war Gina, ihre Nachbarin. Sie sah unentschlossen aus. Sofie überlegte, ob sie sich bemerkbar machen sollte. Vengooo! Sie dachte es nur. Gina stellte einen mit Alufolie bedeckten Teller auf den Briefkasten und ging wieder.

Sophie ließ sich in die Kissen zurückfallen. Kein Zweifel, Gina hatte ihr schon wieder eine ihrer selbst gemachten Köstlichkeiten gebracht. Dafür würde sie sich noch bedanken müssen.

Keine fünf Minuten später ging sie am Tor vorbei und sah – was für ein Zufall! – den Teller. Sie trug ihn rasch ins Haus, riss die Alufolie weg und machte sich gierig über die duftende Mandeltorte her. Das war es nämlich, was aus ihr geworden war. Ein Fresssack. Der traurige Rest der ehemaligen selbstbewussten Buchhändlerin Sophie Andermatt.

Sie hätte ja ganz schön zugelegt, hatte Matthias am Sonntag bemerkt, noch bevor der richtige Streit losgegangen war. Sie, die überhaupt nie auf ihre Linie hatte schauen müssen, weil sie von Natur aus schlank war. Mit einem Mal kniffen die Hosen auch da, wo nicht ihr Bauch war. Nach der Schwangerschaft würde sich das wieder ändern müssen. Matthias mochte keine dicken Frauen. Dicksein wertete Matthias als Versagen. Dick waren nur Verlierer.

Sophie verschlang die Torte, ohne innezuhalten. Wenn sie so weiterfraß, würde Matthias sie sowieso bald verlassen, dann wäre sie ihn endlich los. Sie brauchte gar nichts anderes zu tun, sie musste sich nur richtig gehen lassen. Vielleicht hatte er ja bereits jemanden kennengelernt.

Ächzend legte sie sich wieder aufs Bett. Dann stünde sie da. Mit Kind, ohne Geld, weit weg von ihrer Familie. Beim bloßen Gedanken daran, schluchzte sie laut auf. Sie würde noch die Nerven verlieren oder eine Fehlgeburt erleiden! Mit zitternden Fingern fischte sie ein Taschentuch aus der Packung, die auf ihrem Nachttisch lag, schnäuzte die Nase und warf es zu den anderen auf den Boden. Fazzoletto, fazzoletto, fazzoletti! Nicht ausflippen jetzt!

Sie stand wieder auf, riss sich die Kleider vom Leib und stellte sich unter die kalte Dusche. Nächstes Wochenende würde sie noch einmal mit Matthias reden. Sie würde ihm sagen, wie sehr sie diese Situation verletzte. Wie kontrolliert sie sich fühlte. Sie würde ihm sagen, dass er sie nicht wie ein Kind behandeln dürfe. Dann benimm dich nicht wie eines, würde er eiskalt antworten und in ihr würde wieder die Wut hochsteigen, aber diesmal würde sie sich nichts anmerken lassen. Gefasst würde sie ihm die Situation vor Augen führen. Ihm aufzeigen, wie lächerlich es doch war, dass er ihr jeden Sonntagabend 200 Euro auf den Tisch legte und meinte, das sei schon gut so. Dass er ihr keinen Zugang zum Konto gewährte, welches natürlich auf Matthias‘ Namen alleine lautete. Es war, als ob man ihr mit 35 den Mündigkeitsstatus entzogen hätte.

Er würde es verstehen müssen sonst … Ja, was sonst? Ein heiseres Lachen brach aus ihr heraus. Unwahrscheinlich, dass sie den Mut aufbringen würde, ihn zu verlassen. Und eigentlich liebte sie ihn ja, oder? Liebte sie ihn noch? Wahrscheinlich schon. Jedenfalls konnte sie sich kein Leben mehr ohne ihn vorstellen. Außerdem war sie schwanger und Matthias freute sich wie irre auf das Kind.

Ein weiteres energisches Klingeln schreckte sie auf. Wer konnte das schon wieder sein? Bestimmt der Postbote. Bestimmt schickte ihre Schwiegermutter noch mehr Babykleider. Noch mehr Jäckchen und Strampler, Mützchen und Schühchen. Die Kommode war bereits voll davon und kaum ein Stück hatte Sophie selbst ausgesucht.

Ohne sich abzutrocknen, warf sie sich ihr Kleid über und eilte zum Tor. Es war tatsächlich der Postbote. Er grüßte fröhlich und schwenkte ein Expressschreiben in der Hand. Sophie nahm den Umschlag verwundert entgegen. Der Brief war von Matthias. Die Scheidungspapiere? Jetzt, wo das Kind unterwegs war?

»Buon‘ notizie?« Der Postbote wartete, vielleicht aus Neugier, vielleicht, um Hilfe zu leisten, sollte sie in Ohnmacht fallen. Sie riss den Umschlag auf und entnahm ihm ein Formular und eine Notiz. Liebste Sophie, du hast recht. Ich werde bei der Bank den Antrag auf ein gemeinsames Konto und eine zweite Bankkarte stellen. Bitte unterschreib die Formulare und schick sie rasch wieder zurück. Küsse, Matthias

»Buon‘ notizie?«

»Si«, antwortete sie strahlend. »Ottime. Grazie.«

 

Version 2