Von Jill Schuchardt
„Kaputt“, hat er gesagt. „Du bist doch total kaputt!“ Und dann ist er weggegangen. Einfach so. Ohne sich noch einmal umzudrehen. Kaputt ist ein nicht steigerbares, umgangssprachliches Adjektiv. Es meint erstens so etwas wie zerbrochen, defekt, nicht mehr funktionsfähig, dann aber auch so was wie zerrüttet oder nicht mehr intakt. Was davon trifft nun auf mich zu?
Mir wird schlecht.
„Macht kaputt, was euch kaputt macht!“, dröhnt aus den Lautsprechern, die Musik wummert laut in meinem Ohr. Ja, wenn das so einfach wäre. Ich stehe vor einem hohen Fabrikfenster, die Tänzer um mich herum bewegen sich wild im Rhythmus der Musik. Es ist heiß hier, alles ist beschlagen. Das Kondenswasser läuft die Wände herunter, Schweiß tropft von meiner Stirn, läuft salzig und brennend in meine Auge. Langsam beuge ich mich vor, berühre das Fenster, die Glasscheibe kühlt meine Stirn. Das fühlt sich gut an! Der Bass wummert unschön in meinem Magen.
Ich presse mich nun fest gegen das Glas und ein Abdruck meiner Selbst bleibt fettglänzend darauf zurück. Von wegen kaputt!, denke ich wütend und blicke mich in dem Raum um, starre dann an die Decke. Hoch, schwarz gestrichen, glänzt feucht. Jeder hier ist in seinem eigenen Takt gefangen, sie hüpfen zwar gemeinsam zum Rhythmus des Liedes, aber eigentlich tanzt jeder für sich.
Es tut so weh, ich stehe weiter vor dem beschlagenen Fenster, ein Teilabdruck meines Gesichts bleibt auf der Scheibe zurück, der Rest ist noch beschlagen, nur dort, wo ich mich angelehnt hatte, kann man auf die Straße sehen. Während ich äußerlich unbeweglich stehen bleibe und mir eine Zigarette anzünde, wirbeln Gedanken wirbeln durch meinen Kopf. Sich an der Kälte der Außenwelt ritzen, ja, genau. In mir ist alles aufgeraut. Verletzt. Er ist gegangen. Ich fahre langsam durch meine Haare, suche nebenher nach meinen Zigaretten, finde die Packung in meiner Jeansjacke, pule umständlich eine heraus, zünde sie an und inhaliere tief, puste dann den Rauch betont langsam wieder aus, zähle dabei in Gedanken bis fünf, wobei ich mit meinem Zeigefinger seltsame Zeichen auf das beschlagene Fenster vor mir male.
Die Masse um mich herum tanzt nun ekstatisch, sie sehen aus wie ein großes Wesen, mit nur einem Körper, der etwas verdaut. Vorspulen. Pause drücken. Die Musik geht aus! Vor meinem inneren Augen machen sie genau das, was ich will. Alle Tänzer bewegen sich erst ganz schnell, wupp, bleiben dann unbeweglich stehen, klong, und nun ist es ganz still im Raum. Man hört nichts mehr! Ich halte die Welt mit meinen Gedanken an. Zurückspulen. Stopptaste drücken. Alles löschen. Noch einmal von vorne beginnen. Ja, das wäre etwas! Ich seufze laut. Wenn das doch nur ginge! Langsam male ich mit meiner ganzen Hand einen breiten Kreis mit einem Punkt darin auf das beschlagene Fenster und innerlich schreit es in mir nur: ICH BIN NICHT KAPUTT. „Nur etwas angeschlagen, ein klitzekleines bisschen, einen Haarriss, kaum sichtbar, ja, den hast du mir verpasst, aber den werde ich schon wieder kitten“, höre ich mich leise raunen und meine Stimme klingt seltsam fremd und spröde. Quietschend gleitet mein Finger über den Glaskäfig. Kreise und Spiralen und Smileys mit mürrischem Mund entstehen und dazwischen laufen Tropfen herunter, die in dem Licht hier in allen Farben des Regenbogens leuchten. Ich inhaliere noch einmal ganz tief ein bis meine Lunge schmerzt: Was bedeutet schon kaputt? Meine Armbanduhr ist kaputt. Die Ehe meiner Eltern ist kaputt. Meine erste feste Beziehung ist gerade kaputt gegangen. Aber bin ich deshalb kaputt? Ist meine Seele, oder Psyche oder der Lebenshauch in mir deshalb etwa kaputt? Ist irgendwo eine Ecke von mir eingedrückt? Blättert der Lack von mir ab?
Wütend trete ich gegen einen Mülleimer und streiche mir dann langsam durch die feuchten Haare. Mein Fuß pocht zum Takt der Musik. Sammle dich! In kleinen Scherben liege ich auf dem Boden und alle tanzen auf mir herum, hüpfen und drehen sich. Wie soll ich es nur schaffen, mich wieder zusammen zu puzzlen? Bis ich das nicht geschafft habe, bleibe ich einfach hier stehen. Gute Idee. Wahnsinnig gute Idee. Dreht der sich um, und geht. Ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich fasse es nicht. Aber ich mache da nicht mit! Nein, ganz im Gegenteil, ich bleibe hier stehen, setze mich dem Schmerz aus, solange, bis ich weiß, was ich tun muss! Sammele jedes noch so kleine Stück von mir selber wieder auf. So handelt jemand, der NICHT kaputt ist! Ich sehe die Grenze zwischen mir und den anderen ganz genau, glasklar eben! Ich bleibe hier stehen. Kurz lege ich mein Gesicht in meinen Händen ab. Nur ganz kurz und flüstere: „langsam tauche ich meine hand in den zarten spiegel meiner selbst und schöpfe aus mir, immer wieder, fülle alles aus und zerrinne. meine ewigkeit ist zu kurz, um dies alles zu verstehen. immer wieder stehe ich sprachlos, handlungs-unfähig vor mir und stelle mich mir selbst“.
Auch wenn mich die anderen von draußen sehen können, hier am Fenster stehend, und sie ein rauchendes, weinendes Mädchen mit blonden kurzen Haaren sehen, welches unverständliche Zeichen auf ein beschlagenes Fenster einer Disco malt, dabei raucht und die sie nicht kennen und sie die nicht verstehen und sich wundern, warum die weint und nicht verstehen, sich vielleicht auch gar nicht interessieren, nur sich selber wahrnehmen, nur um sich selber kreisen, ihren eigenen kleinen Kosmos derart lieben, dass sie das Zentrum ihres Universums sind. Wenn ICH kaputt bin, dann sind wir das ALLE! Ich spiegele mich in euren Augen und sehe mich durch euch. Ob ich das mag, was ich sehe, spielt keine Rolle. Das einzige, was ich sagen kann ist, dass dieses Mädchen dort am Fenster äußerlich nicht zersplittert ist! Sie sieht heile aus. Aber genau deshalb, weil wir Menschen manchmal so sind, so Ichbezogen, bleibe ich trotzig stehen und verziehe mich nicht in mein geheimes Kämmerlein, stehe und male, mache einfach weiter so, bis es dunkel wird und ich mich im Fenster spiegele und ich gleichzeitig mich und die anderen sehen kann und mich dann erkenne und mich wieder und wieder in den Augen meines Spiegelbildes spiegele bis ich nur noch Stecknadel groß bin, kaum zu erkennen, eine Essenz von mir, ich komprimiert auf die kleinst-mögliche Stelle, gerade noch sichtbar.
Ja, nun kann ich damit beginnen, mich wieder zusammen zu setzen. Immer kleiner werdend winke ich mir zu und lächele, während ich meine Faust hebe und gegen die Scheibe schlage, erst langsam, dann immer schneller und fester. Ich schlage so fest zu, dass die Fensterscheibe zerbricht und viele kleine und größere Scherben an meiner Hand kleben. Sehe meine Hand, sie ist mit kleinen blutigen Schnitten übersät, sehe die vielen kleinen Glassplitter, fühle den Wind auf meinem Gesicht, der sanft durch das Fenster weht. Glassplitter in und auf meiner Hand. Jetzt habe ich etwas kaputt gemacht. Etwas außerhalb von mir. Das ist weniger schmerzhaft als das, was du getan hast. Auch jetzt sehe ich noch überdeutlich deinen Mund vor mir, kurz bevor du die Worte ausgesprochen hast.
„KAPUTT bist DU! Nicht ich!“, denke ich und streiche währenddessen vorsichtig die letzten Splitter von meiner Hand und krieche durch das Loch in der Scheibe nach draußen. Dabei passe ich sehr genau auf, dass ich mich nicht mehr an den scharfen Kanten des Lebens schneide!